ffh 2017: der dritte tag

Da ich gestern noch nicht richtig zum Schreiben gekommen bin, opfere ich den ersten Film am Vormittag, bleibe im Hotel und versuche, den drei Filmen von gestern und vorgestern schreibend nachzukommen. Heute stehen die ersten Filme aus der diesjährigen Retrospektive an, die dem algerisch-stämmigen französischen Regisseur Tony Gatlif gewidmet ist.

Tony Gatlif wurde 1948 in Algier geboren, der Vater war Kabyle, die Mutter Roma. Während des Algerienkriegs zu Anfang der 1960er Jahre emigrierte Tony Gatlif nach Frankreich und begann nach einer Schauspielausbildung damit, selbst Filme zu drehen. Zentrale Themen sind die verschiedenen Roma-Communities, die er während seiner ausgedehnten Reisen kennengelernt hat, Exilierte aus aller Welt, und nicht zuletzt: die Musik. Heute sehe ich mir Swing (2002) an, eine Geschichte, die bei den elsässischen Manouches spielt, und Exils (2004) über ein Pärchen, das beschließt, nach Algerien, in ihr unbekanntes Herkunftsland, zu reisen. Ich bin ungeheuer gespannt auf die Machart dieser Filme! Vielleicht schaffe ich es ja sogar, noch in eine Spätvorstellung zu gehen, dann würde ich mir noch Transylvania (2006) ansehen, eine Reise zweier Frauen nach Rumänien. Das könnte eine lange Filmnacht werden!

the shape of water

| r guillermo del toro | usa 2017| a sally hawkins : richard jenkins : michael shannon : octavia spenser : michael stuhlbarg : doug jones |

quelle: hofer filmtage

Die Schöne und das Biest, Fantasie-Märchen im Tim Burton-Style mit trashigen Splatter-Einlagen, vor der Kulisse des Kalten Krieges, einschließlich Hochsicherheitslabor, sowjetischer Agentenstory, dem unverzichtbaren sadistischen Bösen und einem wunderbaren Monster. Auch eine kurze Musical-Tanz-Gesangs-Einlage darf bei diesem Stoff nicht fehlen. Popkornkino vom Feinsten, mit wunderbarem Cast: Sally Hawkins als stumme ätherische Schöne, Richard Jenkins als ihr herrlich verschusselter schwuler Nachbar und väterlicher Freund, Michael Shannon als Superfiesling, Octavia Spenser als resolute wortgewaltige Freundin, Michael Stuhlbarg als Wissenschaftler und Spion mit reinem Herzen und schließlich Doug Jones in der (Wohl-)Gestalt der amphibischen „Kreatur“.

quelle: hofer filmtage

Hollywood-Größe Guillermo del Toro (Hell Boy I und II, Pacific Rim, Crimson Peak) hat sich The Shape of Water selbst geschenkt, eine zarte Liebesgeschichte zwischen der versehrten Schönen und dem göttlichen Amphibienmonster, das von den bösen Mächten im Hochsicherheitslabor der amerikanischen Regierung in Ketten gehalten und misshandelt wird. Es ist ein romantisches Liebesmärchen darüber, dass die Kleinen und (nur scheinbar) Schwachen über die Mächtigen siegen können und dass die Liebe auch die größten Widerstände besiegen kann. Frei von Pathos, detailverliebt und mit vielen Anspielungen, höchst unterhaltsam und mit Leichtigkeit vorgetragen. Wunderbar!

a la recherche des femmes chefs

| r vérane frédiani | doc – f 2016 | b vérane frédiani | 106 min |

quelle: hofer filmtage

Es ist ja wahrlich nicht so, als ob es keine Frauen in der Küche gäbe. In der Spitzengastronomie dagegen sind Frauen nicht zu sehen. Vérane Frédiani ist diesem Phänomen in ihrem Dokumentarfilm nachgegangen und hat sich auf die Suche nach weiblichen Chefköchinnen (A la recherche des femmes chefs) gemacht. Abgesehen davon, dass sie selbstverständlich Köchinnnen findet und porträtiert, gibt Frédiani Erklärungen sowohl dafür, wie die zahlenmäßig massiv unterrepräsentierten Köchinnen aus den Leitungspositionen der Küchen herausgehalten werden, als auch dafür, wie man(n) die wenigen Frauen in den Spitzenküchen systematisch unsichtbar hält. A la recherche des femmes chefs zeigt mit Witz, Charme und Wärme wie man eine gender-gerechte Sichtweise auf das Phänomen Frauen und Profiküchen entwickeln kann und lässt verschiedene Branchenkenner die struktuellen Mechanismen erklären, mit denen Frauen systematisch aus den Spitzenpositionen herausgehalten werden. „a la recherche des femmes chefs“ weiterlesen

ffh 2017: zweiter tag

Nach dem ambivalenten Eröffnungsfilm Drei Zinnen am Dienstag Abend ist für mich der erste Tag auch schon zu Ende. Verrotzt und mit Kopfschmerzen verzichte ich auf die Eröffnungsparty in der Hoftex und fahre direkt ins Hotel. Den zweiten Tag gehe ich dann entsprechend gemütlich an. Ich freue mich auf Chefköchinnen in A la recherche des femmes chefs, und am frühen Abend gönne ich mir amerikanisches Popkorn-Kino: Guillermo del Toros The Shape of Water, der in Venedig den Goldenen Löwen geholt hat.

drei zinnen

| r+b jan zabeil | d 2017 | a arian montgomery : alexander fehling : bérénice bejo |

Der Eröffnungsfilm der Hofer Filmtage: Drei Zinnen, geschrieben und in der Regie von Jan Zabeil. Die Drei Zinnen bilden die gigantische Alpenkulisse für eine Berghütte, in der eine kleine Familie zurückgezogen Urlaub macht: ein Junge, die Mutter und der Stiefvater. Erzählt wird die schwierige Beziehung zwischen dem vielleicht siebenjährigen Tristan (schön sperrig: Arian Montgomery) und seinem Stiefvater Aaron (Alexander Fehling). Über weite Strecken langsames Arthouse im Gewand von handwerklich gekonntem Hochglanzkino. Das Chalet schäbi-schick eingerichtet, die Menschen gefällig anzusehen, der Film etwas verkrampft um Vermeidung von Klischees bemüht: Die schöne Mutter (Bérénice Bejo) auch intellektuell, wie ein Buchtitel über Logik wenig subtil vermittelt. „drei zinnen“ weiterlesen

hofer filmtage 2017

Die diesjährigen Hofer Filmtage finden zum 51. Mal statt und gehen vom Dienstag, 24. Oktober, bis Sonntag, 29. Oktober. Nach dem ersten Durchblättern des Programms erscheint die Filmauswahl dieses Jahr schmaler und weniger international als in der letztjährigen Jubiläumsausgabe des Festivals. Die fünfzigste Ausgabe der Hofer Filmtage musste ja auf den plötzlich verstorbenen langjährigen Festivalleiter Heinz Badewitz verzichten und war unter einer Interimsleitung ausgerichtet worden. Neuer Leiter ist dieses Jahr Thorsten Schaumann, der das Festival sympathisch aufgeregt-ungelenkt am Dienstag abend mit der Vorführung der Drei Zinnen für eröffnet erklärte. Sehr gespannt bin ich auf die Filme von Tony Gatlif, der mit einer Retrospektive geehrt wird.

Das war das Filmfest München 2017

That’s it – das wars für mich. Ich fahre jetzt etwas benommen nach Hause, mit quadrigen Augen. In sechs Tagen elf Filme gesehen – ich weiß, Andere können eine viel dichtere Taktung, aber mir reicht es. Mit den Filmen hatte ich dieses Jahr überwiegend Glück, abgesehen von ein paar wenigen Schlappen (die zwei kleineren The day after und Wilson und die größere Un beau soleil intérieur) habe ich einige wunderbare Kinomomente erlebt: Rayhanas üppiges Hammam-Frauendrama und mitreißende Anklage von Islamismus und Frauenhass in A mon âge je me cache encore pour fumer, Elena Caffés engagiertes Porträt der brasilianischen Wohnungslosenbewegung und Häuserbesetzerorganisationen anhand der aus der ganzen Welt stammenden Gemeinschaft verschiedenster Menschen in einem riesigen besetzten ehemaligen Hotel von São Paolo in Era o Hotel Cambridge, den modernen eastern-Western Valeska Griesebachs samt ausladener Landschaft, wortkargem Helden, einem Gewehr und dem obligatorischen Pferd, die in der Katastrophe endende zarte Liebesgeschichte der Cuori puri, das Lehrstück The constitution über wirkliche menschliche Begegnungen in der auch zwanzig Jahre nach dem Krieg immer noch von Hass zerfressenen kroatischen Gesellschaft. Und am Ende habe ich mich ein bisschen in die ruppige Daphne verliebt, mit der ich neunzig Minuten lang saufend und fluchend, ein bisschen herumhurend und verzweifelt durch London gestreift bin.

ffm 2017 sechster und letzter tag

Der sechste Tag auf dem Münchner Filmfest 2017 beginnt für mich mit dem Langfilmdebüt des Schotten Peter Mackie Burns, der 2005 den Goldenen Bären für seinen Kurzfilm Milk gewann. Daphne ist eine Anfang dreißigjährige alleinstehende Frau, die als Köchin in einem Restaurant arbeitet, scharfzüngig bis zynisch ihre Umwelt wissen lässt, wie wenig sie von ihr hält und zu oft zu viel trinkt. Peter Mackie Burns bringt es im Anschluss an die Vorstellung auf den Punkt: Daphne zeigt, was passiert, wenn du der wirst, der du vorgibst zu sein. Der Film ist ein ästhetischer Londonfilm über einsame Menschen und verkapselte Herzen – und Emily Beecham gibt den weiblichen lonely wolf im Großstadtdschungel sperrig, intelligent, widerborstig, depressiv, selbstbestimmt und ohne jedes Selbstmitleid. Peter Mackie Burns und sein Autor Nico Mensinga haben eine Frauenfigur geschaffen, die sich wohltuend den gängigen stereotypen Rollenklischees von Frauen entzieht. In den Nebenrollen sehen wir unter anderem Geraldine James, Tom Vaughan-Lawlor, Nathaniel Martello-White und Karina Fernandez.

Im Anschluss überfallen mich Müdigkeit und Ermattung, München mit seinen fetten Karren und dem spießigen Schick, die Filmmenschen mit den am Hals baumelnden Ausweisen ihrer Wichtigkeit und die überall herumwuselnden Filmpromis gehen mir plötzlich unerträglich auf die Nerven. Es ist genug, ich beschließe, nach Hause zu fahren. Ein letzter Film noch und morgen früh dann ab durch die Mitte.

Mein letzter Film Jeunesse läuft in einer frühen Spätvorstellung im Theatiner, diesem charmanten, 1957 gegründeten Filmtheater (hier passt der Ausdruck) am Odeonsplatz mit den legendär unbequemen Sitzen, das seinerzeit die Nouvelle Vague nach München brachte. Der letztes Jahr in Locarno im Wettbewerb gelaufene Jeunesse ist die Verfilmung der Erzählung Youth von Joseph Conrad über einen jungen Mann, der auf der Suche nach Geld und Abeuteuer auf einem Frachtschiff anheuert. Doch das Leben auf dem Schiff ist rauer als gedacht, ebenso wie die See, als die Judea bald nach Auslaufen in einen heftigen Sturm gerät – beeindruckend, wie Kévin Azaïs den vor Furcht und Seekrankheit halb toten Jungen spielt! Jeunesse ist im Grunde ein klassischer Abenteuer- und Seefahrerfilm in Lord Jim-Manier. Zugleich wird die innere Reise des Helden erzählt, Zico meistert sein schwieriges Abenteuer und wird durch diese existenzielle Erfahrung erwachsen. Entsprechend bemüht sich Julien Samani bei eindeutiger Verortung im Heute erfolgreich um ein zeitloses Setting. Doch trotz solcher Überlegungen und toller Darsteller (neben dem starken Kévin Azaïs brilliert Sami Guesmi als rechte Hand des Käpitäns) nehme ich dem Film die Geschichte nicht richtig ab. Es könnte auch an meiner (Film-)Müdigkeit liegen, dass mir das Handeln der Figuren hölzern und nicht plausibel erscheint und die Adaptation der Conrad-Erzählung als nicht besonders gelungen. Trotzdem macht dieser Film natürlich total Spaß, es gibt ein Schiff und dreckige Männer und die tobende See. Was will man mehr?

era o hotel cambridge

In den Himmel ragende Gründerzeitgebäude sind übersät mit Graffiti, die Fassaden von verlassenen Mietshäusern bröckeln, zerbrochene Scheiben, zugemauerte Fenster und Eingänge. Leerstand in São Paulo, in der es einer Familie mit niedrigerem Einkommen schnell passieren kann, sich keine Wohnung mehr leisten zu können und auf der Straße zu landen. Extreme Wohnraumverknappung bei rasend steigenden Preisen: Dieses Problem betrifft mittlerweile alle urbanen Ballungsräume, die Situation in Megacities wie São Paulo (mit zwölf Millionen Einwohnern allein in São Paulo-Stadt) ist dramatisch. „era o hotel cambridge“ weiterlesen

ffm 2017 tag fünf

Der fünfte Filmfest München-Tag beginnt für mich schon mittags mit meiner ersten Pressevorführung. Und tatsächlich gibt einen gewissen Filmpromi-Effekt, ich sehe ein paar bekannte Gesichter, die ich nicht zuordnen kann, und das der letztjährigen Kuratorin der Hofer Filmtage. Die Pressevorführung von Western, dem neuen Film von Valeska Griesebach, im großen Saal der HFF ist gut besucht, kein Wunder, lief der Film im diesjährigen Wettbewerb von Cannes und hat durch die Bank begeisterte Kritiken in den Feuilletons geerntet.

Am frühen Abend rette ich mich in letzter Minute vor dem Gewitter in das Kino am Sendlinger Tor, eines der letzten alten großen Münchner Kinos, das ich nur zum Filmfest besuche, weil dort ansonsten leider nur trashiges und mit Vorliebe deutsches Mainstreamkino gezeigt wird. Heute läuft The Burglar der israelischen Regisseurin Hagar Ben Asher über eine einsame, verlorene und verwirrte junge Frau, die in Wohnungen einbricht und einen älteren Geologen (Ronald Zehrfeld) kennenlernt. Zehrfeld macht den Ausschlag, dass ich mir den Film ansehe, und zur Belohnung ist er im Anschluss an die Vorführung (in hässlichem Motto-T-Shirt) anwesend und schafft es, mit seiner ersten schlichten Antwort jede mystische Aura augenblicklich zu pulverisieren.

Während des Gewitters schlägt übrigens in München an diesem Tag der Blitz ein und sorgt dafür, dass in einigen Kinos der Strom ausfällt und die Filme unterbrochen werden.

In der Spätvorstellung schließlich gibt es den szenischen Dokumentarfilm Era o Hotel Cambridge über die soziale Bewegung der Wohnungslosen und ihre Häuserbesetzungen in Brasilien, der mich tief beeindruckt. Familien aus der Stadt, aus dem Norden des Landes, Flüchtlinge aus der ganzen Welt leben zusammen in einem riesigen Wohnungsblock in São Paolo und kämpfen für ihr in der brasilianischen Verfassung verankertes Recht auf Wohnung. Die Schwestern Eliane Caffé (Regie) und Carla Caffé (Filmarchitektur) erklären im Anschluss an den aufwühlenden Film politische Hintergründe und ihr eigenes Engagement, das aus diesem Filmprojekt entstanden ist.