Das war das Filmfest München 2017

That’s it – das wars für mich. Ich fahre jetzt etwas benommen nach Hause, mit quadrigen Augen. In sechs Tagen elf Filme gesehen – ich weiß, Andere können eine viel dichtere Taktung, aber mir reicht es. Mit den Filmen hatte ich dieses Jahr überwiegend Glück, abgesehen von ein paar wenigen Schlappen (die zwei kleineren The day after und Wilson und die größere Un beau soleil intérieur) habe ich einige wunderbare Kinomomente erlebt: Rayhanas üppiges Hammam-Frauendrama und mitreißende Anklage von Islamismus und Frauenhass in A mon âge je me cache encore pour fumer, Elena Caffés engagiertes Porträt der brasilianischen Wohnungslosenbewegung und Häuserbesetzerorganisationen anhand der aus der ganzen Welt stammenden Gemeinschaft verschiedenster Menschen in einem riesigen besetzten ehemaligen Hotel von São Paolo in Era o Hotel Cambridge, den modernen eastern-Western Valeska Griesebachs samt ausladener Landschaft, wortkargem Helden, einem Gewehr und dem obligatorischen Pferd, die in der Katastrophe endende zarte Liebesgeschichte der Cuori puri, das Lehrstück The constitution über wirkliche menschliche Begegnungen in der auch zwanzig Jahre nach dem Krieg immer noch von Hass zerfressenen kroatischen Gesellschaft. Und am Ende habe ich mich ein bisschen in die ruppige Daphne verliebt, mit der ich neunzig Minuten lang saufend und fluchend, ein bisschen herumhurend und verzweifelt durch London gestreift bin.

ffm 2017 sechster und letzter tag

Der sechste Tag auf dem Münchner Filmfest 2017 beginnt für mich mit dem Langfilmdebüt des Schotten Peter Mackie Burns, der 2005 den Goldenen Bären für seinen Kurzfilm Milk gewann. Daphne ist eine Anfang dreißigjährige alleinstehende Frau, die als Köchin in einem Restaurant arbeitet, scharfzüngig bis zynisch ihre Umwelt wissen lässt, wie wenig sie von ihr hält und zu oft zu viel trinkt. Peter Mackie Burns bringt es im Anschluss an die Vorstellung auf den Punkt: Daphne zeigt, was passiert, wenn du der wirst, der du vorgibst zu sein. Der Film ist ein ästhetischer Londonfilm über einsame Menschen und verkapselte Herzen – und Emily Beecham gibt den weiblichen lonely wolf im Großstadtdschungel sperrig, intelligent, widerborstig, depressiv, selbstbestimmt und ohne jedes Selbstmitleid. Peter Mackie Burns und sein Autor Nico Mensinga haben eine Frauenfigur geschaffen, die sich wohltuend den gängigen stereotypen Rollenklischees von Frauen entzieht. In den Nebenrollen sehen wir unter anderem Geraldine James, Tom Vaughan-Lawlor, Nathaniel Martello-White und Karina Fernandez.

Im Anschluss überfallen mich Müdigkeit und Ermattung, München mit seinen fetten Karren und dem spießigen Schick, die Filmmenschen mit den am Hals baumelnden Ausweisen ihrer Wichtigkeit und die überall herumwuselnden Filmpromis gehen mir plötzlich unerträglich auf die Nerven. Es ist genug, ich beschließe, nach Hause zu fahren. Ein letzter Film noch und morgen früh dann ab durch die Mitte.

Mein letzter Film Jeunesse läuft in einer frühen Spätvorstellung im Theatiner, diesem charmanten, 1957 gegründeten Filmtheater (hier passt der Ausdruck) am Odeonsplatz mit den legendär unbequemen Sitzen, das seinerzeit die Nouvelle Vague nach München brachte. Der letztes Jahr in Locarno im Wettbewerb gelaufene Jeunesse ist die Verfilmung der Erzählung Youth von Joseph Conrad über einen jungen Mann, der auf der Suche nach Geld und Abeuteuer auf einem Frachtschiff anheuert. Doch das Leben auf dem Schiff ist rauer als gedacht, ebenso wie die See, als die Judea bald nach Auslaufen in einen heftigen Sturm gerät – beeindruckend, wie Kévin Azaïs den vor Furcht und Seekrankheit halb toten Jungen spielt! Jeunesse ist im Grunde ein klassischer Abenteuer- und Seefahrerfilm in Lord Jim-Manier. Zugleich wird die innere Reise des Helden erzählt, Zico meistert sein schwieriges Abenteuer und wird durch diese existenzielle Erfahrung erwachsen. Entsprechend bemüht sich Julien Samani bei eindeutiger Verortung im Heute erfolgreich um ein zeitloses Setting. Doch trotz solcher Überlegungen und toller Darsteller (neben dem starken Kévin Azaïs brilliert Sami Guesmi als rechte Hand des Käpitäns) nehme ich dem Film die Geschichte nicht richtig ab. Es könnte auch an meiner (Film-)Müdigkeit liegen, dass mir das Handeln der Figuren hölzern und nicht plausibel erscheint und die Adaptation der Conrad-Erzählung als nicht besonders gelungen. Trotzdem macht dieser Film natürlich total Spaß, es gibt ein Schiff und dreckige Männer und die tobende See. Was will man mehr?

era o hotel cambridge

In den Himmel ragende Gründerzeitgebäude sind übersät mit Graffiti, die Fassaden von verlassenen Mietshäusern bröckeln, zerbrochene Scheiben, zugemauerte Fenster und Eingänge. Leerstand in São Paulo, in der es einer Familie mit niedrigerem Einkommen schnell passieren kann, sich keine Wohnung mehr leisten zu können und auf der Straße zu landen. Extreme Wohnraumverknappung bei rasend steigenden Preisen: Dieses Problem betrifft mittlerweile alle urbanen Ballungsräume, die Situation in Megacities wie São Paulo (mit zwölf Millionen Einwohnern allein in São Paulo-Stadt) ist dramatisch. „era o hotel cambridge“ weiterlesen

ffm 2017 tag fünf

Der fünfte Filmfest München-Tag beginnt für mich schon mittags mit meiner ersten Pressevorführung. Und tatsächlich gibt einen gewissen Filmpromi-Effekt, ich sehe ein paar bekannte Gesichter, die ich nicht zuordnen kann, und das der letztjährigen Kuratorin der Hofer Filmtage. Die Pressevorführung von Western, dem neuen Film von Valeska Griesebach, im großen Saal der HFF ist gut besucht, kein Wunder, lief der Film im diesjährigen Wettbewerb von Cannes und hat durch die Bank begeisterte Kritiken in den Feuilletons geerntet.

Am frühen Abend rette ich mich in letzter Minute vor dem Gewitter in das Kino am Sendlinger Tor, eines der letzten alten großen Münchner Kinos, das ich nur zum Filmfest besuche, weil dort ansonsten leider nur trashiges und mit Vorliebe deutsches Mainstreamkino gezeigt wird. Heute läuft The Burglar der israelischen Regisseurin Hagar Ben Asher über eine einsame, verlorene und verwirrte junge Frau, die in Wohnungen einbricht und einen älteren Geologen (Ronald Zehrfeld) kennenlernt. Zehrfeld macht den Ausschlag, dass ich mir den Film ansehe, und zur Belohnung ist er im Anschluss an die Vorführung (in hässlichem Motto-T-Shirt) anwesend und schafft es, mit seiner ersten schlichten Antwort jede mystische Aura augenblicklich zu pulverisieren.

Während des Gewitters schlägt übrigens in München an diesem Tag der Blitz ein und sorgt dafür, dass in einigen Kinos der Strom ausfällt und die Filme unterbrochen werden.

In der Spätvorstellung schließlich gibt es den szenischen Dokumentarfilm Era o Hotel Cambridge über die soziale Bewegung der Wohnungslosen und ihre Häuserbesetzungen in Brasilien, der mich tief beeindruckt. Familien aus der Stadt, aus dem Norden des Landes, Flüchtlinge aus der ganzen Welt leben zusammen in einem riesigen Wohnungsblock in São Paolo und kämpfen für ihr in der brasilianischen Verfassung verankertes Recht auf Wohnung. Die Schwestern Eliane Caffé (Regie) und Carla Caffé (Filmarchitektur) erklären im Anschluss an den aufwühlenden Film politische Hintergründe und ihr eigenes Engagement, das aus diesem Filmprojekt entstanden ist.

 

wilson

Woody Harrelson ist Wilson. Und der ist intelligent, nervig und mit ausgesprägtem Sendungsbewusstsein ausgestattet, tritt seinen Mitmenschen grundsätzlich zu nahe und hat einen kleinen Terrier. Wilson ist einsam. Dann zieht sein einziger Freund aus der Stadt weg und sein Vater stirbt. Als Wilson daraufhin beschließt, es doch nochmal mit dem Leben zu versuchen, seine Ex (Laura Dern) ausfindig macht und dadurch erfährt, dass er eine jugendliche Tochter hat, die zur Adoption freigegeben wurde, kommt es zu allerlei Turbulenzen.

Mir geht der berufsjugendliche Humor der graphic-novel-Verfilmung von Craig Johnson sehr bald gehörig auf die Nerven, bin etwas gelangweilt und ich finde, dass Wilson getrost der Kategorie der überflüssigen Filmen zugeschlagen werden kann. Meine Begleitung dagegen ist angetan: Sie mochte die schräge Überdrehtheit, die Unvorhersagbarkeit des weiteren Verlaufs der Geschichte und die Ambivalenz der Hauptfigur, die einem in dem einen Moment peinlich ist und in dem nächsten Moment durch seine Aufrichtigkeit im Innersten berührt. Das freundlichere Fazit meiner Freundin: Kein weltbewegender Film, aber hübsch anzusehen.

ffm 2017 tag vier

In die Spätnachmittagsvorstellung kommt eine cinephile Freundin mit, sie schlägt vor den amerikanischen Wilson, eine Komödie von Craig Johnson (The Skeleton Twins) mit den beiden wunderbaren Woody Harrelson und Laura Dern, und Tereddüt („Clair obscur“) der türkischen Filmemacherin Yeşim Ustaoğlu über Menschen zwischen Unterdrückung und Selbstbestimmung in der türkischen Gesellschaft (mit dem tollen Mehmet Kurtuluş). Ich entscheide für die leichtere Kost – und wäre im Nachhinein doch lieber in den türkischen Film gegangen.

Direkt im Anschluss an den durchwachsenen Wilson geht es aus Amerika nach Kroatien in The Constitution von Rajko Grlić. Es ist die Verfassung von Kroatien, die der bullige Ante mit Lernschwäche und serbischer Abstammung für seine Polizeiprüfung lernen muss. Dabei soll ihm Vjeko helfen, der Professor. Vjeko ist distinguiert, strammer kroatischer Nationalist und schwul. Und fühlt sich geschminkt und in Frauenkleidern am wohlsten. Ein Film über eine schwierige Nachbarschaft und über Freundschaft in einer von Hass und Vorurteilen tief zerrissenen Gesellschaft.

à mon âge je me cache encore pour fumer

Algier. Ein weiter Blick bis auf das Meer, Dachterrassen, enge Gassen. Eine Bombe. Wir sind in den Neunzigern, inmitten der décennie noire, des so genannten schwarzen Jahrzehnts, inmitten des algerischen Bürgerkriegs.

Eines Tages steht die junge Meriem an der Pforte eines Hammams im volkstümlichen Viertel Bab el Oued in Algier, mit blutig geschlagenem Gesicht, hochschwanger und verfolgt von ihrem Bruder, der sie wegen der Schande töten will. Fatima, die Betreiberin des Bades, versteckt die junge Frau, die Wehen setzen ein, und Fatima muss im laufenden Betrieb des Bades eine Hebamme auftreiben, die bei der Geburt hilft. Immer unter der Gefahr, verraten und von den barbus, den bärtigen fanatisierten Islamisten, entdeckt zu werden. „à mon âge je me cache encore pour fumer“ weiterlesen

ffm 2017 tag drei

An meinem dritten Festivaltag muss ich den Tag über arbeiten, es gab wenig Schlaf und die Laune steht nicht zum Besten. Mit etwas Mühe schleppe ich mich in den großen Saal der Kinos Münchner Freiheit in den algerischen Film. Bin vorsichtig mit meinen Erwartungen, habe so gut wie nichts über den Film gelesen und: Ein Wunder! A mon âge je me cache pour fumer ist kraftvoll, tragisch und traurig, witzig, schön gefilmt, hat ein unglaubliches Tempo und berührt mich. Als Bonbon gibt es noch Qs & As mit der Regisseurin, Rayhana ist eine temperamentvolle und emotionale mittelalte Frau, die mit einem flammenden feministischen Plädoyer beginnt. Das Publikum ist begeistert. Ich auch. Als ich in den wolkenverhangenen Abend heraustrete, beschließe ich, mir den Luxus zu gönnen, den Film nachklingen zu lassen, mir heute nichts mehr anzusehen und stattdessen schön zu Fuß nach Hause zu gehen.

ffm 2017 tag zwei

Am Samstag, meinem zweiten Festivaltag, habe ich nur Zeit für einen Film. Ich entscheide mich für Hong Sang-soos The day after, der Film lief im Wettbewerb von Cannes dieses Jahr. Ich entwickele eine Neugier am  südkoreanischen Film, nachdem ich The taste of money von Im Sang-soo und letztens den opulenten The handmaiden von Park Chan-wook im Kino gesehen habe. The day after ist hübsch anzusehen, das Schwarzweiß könnte eine Reminiszenz an das ältere französische Kino sein und ich folgen den Menschen gerne mit dem Auge durch die melancholischen Bilder, wenn sie durch winterliche Stadtlandschaften laufen. In erster Linie ist The day after allerdings ein Dialogfilm, die Wortwechsel sind durchaus intelligent, mitunter schonungslos entlarvend, und wohltuend mit ausreichend Zeit inszeniert. Und doch gelingt es mir nicht, für die Liebeswirren eines alternden Verlegers zwischen (junger) Geliebter, Ehefrau und neuer (junger) Angestellten wirklich Interesse aufzubringen.

un beau soleil intérieur

Arrivierte Künstlerin (Juliette Binoche) schläft sich auf der Suche nach der wahren Liebe durch die männliche Figurenlandschaft ihrer saturierten Welt der Künstler-Galeristen und Möchtegern-Intellektuellen. Die Message ist schnell verstanden. Es geht um die gehobene Bourgeoisie, die selbsternannte intellektuelle Elite des Landes und ihre Arroganz, ihre ewige Selbstbespiegelungen und die Sinnentleertheit ihrer Existenz. Es wird analysiert statt zu leben, geredet statt geliebt, und dabei so viel Idiotie abgesondert, dass man sich selbst demaskiert. Der Stoff, das Setting und die Figurenauswahl wären hervorragend dazu geeignet gewesen, eine bitterböse Abrechnung zu inszenieren, die Spaß macht und zugleich auch ein bisschen weh tut oder sogar ein bisschen mehr. „un beau soleil intérieur“ weiterlesen