era o hotel cambridge

In den Himmel ragende Gründerzeitgebäude sind übersät mit Graffiti, die Fassaden von verlassenen Mietshäusern bröckeln, zerbrochene Scheiben, zugemauerte Fenster und Eingänge. Leerstand in São Paulo, in der es einer Familie mit niedrigerem Einkommen schnell passieren kann, sich keine Wohnung mehr leisten zu können und auf der Straße zu landen. Extreme Wohnraumverknappung bei rasend steigenden Preisen: Dieses Problem betrifft mittlerweile alle urbanen Ballungsräume, die Situation in Megacities wie São Paulo (mit zwölf Millionen Einwohnern allein in São Paulo-Stadt) ist dramatisch.

Protagonist in Era o Hotel Cambridge („Es war das Hotel Cambridge“) der brasilianischen Regisseurin Eliane Caffé (ein ausführliches Interview ist auf Beate C. Kirchners Zoom auf Brasilien nachzulesen) ist ein riesiges heruntergekommenes Gebäude in der Innenstadt von São Paulo, das jahrelang leer stand und verwahrloste, bis es die Aktivisten der FLM (Frente de Luta por Moradia, Front für den Kampf um Wohnungen) besetzten. Lange Unbewohntheit, fehlende notwendige Investitionen und unterlassene Reparaturen haben zum massiven Verfall der Bausubstanz geführt, Wasser- und Stromleitungen sind in einem dramatischen Zustand. Seit der Besetzung haben hier Menschen eine Zuflucht gefunden, die auf dem regulären Wohnungsmarkt nicht mithalten können, Vertriebene aus der ganzen Welt, sei es aus der eigenen Stadt, dem Norden Brasiliens oder anderen lateinamerikanischen Ländern, sei es aus afrikanischen Staaten oder den Krisenherden des Nahen Ostens. Eine selbstorganisierte Weltgesellschaft auf kleinem Raum.

Era o Hotel Cambridge ist ein Doku-Fiction-Hybrid. Das Setting und die (meisten) Figuren sind real, die Szenen werden zum einen von den tatsächlich porträtierten Menschen selbst nachgespielt, zum anderen von professionellen Schauspielern. Der Erzählrahmen spannt sich von der Nachricht vom Gerichtsbeschluss, das Gebäude werde in zwei Wochen geräumt, über den Widerstand, die Vollversammlungen und die Proteste bis hin zur brutalen Räumung durch die in Brasilien dem Militär unterstehende Polizei.

Die eigentliche Story aber sind die Bewohner des Gebäudes und das Zusammenleben in dieser Gemeinschaft. Exemplarisch werden die Geschichten von einigen Menschen erzählt. Da ist der ältere gebildete Hassam aus Palästina, ein Berg von einem Mann, der gerne Gedichte rezitiert. Zusammen mit Hassam hören wir über Skype den erschütternden Bericht seiner Schwester über die katastrophale Lage in Palästina. Ngandu wiederum stammt aus dem Kongo, er musste vor den Rebellen fliehen, die ihn in die lebensgefährlichen Coltan-Minen zwangen. Ngandu erzählt, wie sich die Bürgerkriegsmilizen von den Erträgen dieses für den Bau von Handys unentbehrlichen Rohstoffs neue Waffen kaufen, wir sehen Aufnahmen aus kongolesischen Coltan-Minen. Der junge Mann verliebt sich in eine Brasilianerin, über Skype schildert ihm der Bruder  die täglichen Schwierigkeiten mit der Mutter seines nach der Flucht im Kongo geborenen Sohnes.

Neben den Personen, die sich selbst spielen, stehen brasilianische Schauspieler, José Dumont etwa spielt Apolo, der eine Theatergruppe ins Leben ruft und die Lage ständig mit lustigen absurd-philosophischen Sprüchen kommentiert. Und Suely Franco verkörpert Gilda, eine verschrobene wie extrovertierte ältere ehemalige Zirkusdame, die sich gerne bei jungen Männern wie dem kein Wort Portugiesisch sprechenden Neffen Hassams einhakt. Ein solches Zusammenspiel von Laien und Schauspielern ist riskiert, doch funktioniert es in diesem Film wunderbar, nachdem die Regisseurin Eliane Caffé die Gruppe über ein Jahr intensiv miteinander proben ließ.

Eliane Caffé gehört zu den Filmemachern Brasiliens, die durch die katastrophale Entwicklung im Land eine starke Politisierung erfahren haben, letztes Jahr habe ich Kleber Mendonca Filhos Aquarius sowie O Prefeito von Bruno Safadi gesehen, beides Filme, die die massive Korruption im Bauwesen und die Wohnungsmisere zum Thema machten. Aus einem Dokumentarfilmprojekt über die Situation von Geflüchteten in Brasilien entwickelte Eliane Caffé zusammen mit sozialpolitischen Initiativen den Film Era o Hotel Cambridge über die Häuserbesetzerszene. Auf diese direkte Zusammenarbeit geht auch zurück, dass Dona Carmem, die charmante und durchsetzungsstarke Anführerin im Gebäude von Carmem da Silva Ferreira gespielt wird, die Direktorin der FLM (Frente de Luta por Moradia, Front für den Kampf um Wohnungen), eines Kollektivs autonomer sozialer Aktivistengruppen.

Die Kulisse der einzelnen Geschichten bildet das Gebäude des ehemaligen Hotels Cambridge (um die Filmarchitektur gekümmert hat sich übrigens Eliane Caffés Schwester Carla Caffé) und die vielen kleinen Einrichtungen, die sich im Laufe der Zeit in der Gemeinschaft etabliert haben. Da ist der kleine Tante-Emma-Laden, den Hassam in seiner Wohnung auf einem Bücherregal betreibt, das Buch, in das sich jeder eintragen muss, der das Gebäude betreten möchte, das enge Treppenhaus, in dem ständig etwas hoch- oder heruntergeschleppt wird. Und natürlich gibt es auch Streit und Konflikte, Alltag in einem großen Wohnhaus. Doch es gibt eben auch Gemeinschafts- und Computerräume, es wird Theater gespielt, ein Blog über das Leben im besetzten Haus geschrieben und regelmäßig Versammlung abgehalten. Und nachts trifft man sich, um gemeinsam zu rauchen, etwas zu trinken und sich leise Geschichten zu erzählen.

Schließlich die eindrucksvoll organisierte Neubesetzung eines leerstehenden Gebäudes: Junge Männer zertrümmern mit Vorschlaghammern die Wand, mit der der Eingang des Gebäudes zugemauert wurde, es muss schnell gehen, es geht um jede Sekunde, bevor die Polizei kommt: Im Bus sitzen die zukünftigten Bewohner, sobald der Eingang aufgebrochen ist, hasten sie hinein, dann wird der Eingang von innen verrammelt, Junge, Alte, Kinder, es ist Babygeschrei zu hören, drängen sich in den heruntergekommenen Gebäude, es ist dunkel und dreckig, bis jemand den Strom anschließt und das große Putzen beginnt.

Era o Hotel Cambridge war der wichtigste Film, den ich auf dem Münchner Filmfest gesehen habe. Eliane Caffé gibt in ihrer sehr gelungenen Mischung aus Dokumentar- und Spielfilm ein engagiertes Statement ab, nimmt ausgehend von kleinen Geschichten, deren Protagonisten sie sich mit Respekt nähert, größere Zusammenhänge in den Blick, emotionalisiert, ohne schlichte Lösungen zu deklamieren. Era o Hotel Cambridge thematisiert mit der Wohnungsnot und den binnen und international Geflüchteten zwei der vielen drängenden sozialen und politischen Konflikte, die sich im 21. Jahrhunderts zunehmend in den großen Ballungsräumen abspielen werden, und es gelang ihr dabei das Kunststück, einen menschlichen, packenden und zugleich höchst unterhaltsamen Film zu drehen.

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