In den beiden ersten Einstellungen von Cuori Puri sehen wir in Großaufnahme die Köpfe zweier rennenden Menschen: Ein junger Mann verfolgt eine junge Frau. Die Kamera von Claudio Cofrancesco ist in diesem Film nah dran an den Menschen, es sind Menschen auf der Flucht, die Bilder wackeln. Dann holt der junge Mann das Mädchen ein, das ein Handy gestohlen hat. Und die beiden verlieben sich ineinander.
Als Agnesa ihrem Beichtvater den Diebstahl gesteht, erklärt ihr der Priester, dass sie eine Todsünde begangen habe. Agnesa lebt in einer fundamentalistischen christlichen Gemeinschaft, die strenggläubige Mutter versucht das achtzehnjährige Mädchen vor den Verfehlungen und Verführungen der gefährlichen Welt zu bewahren und drängt sie dazu, ein religiöses Gelübte der Keuschheit vor der Ehe abzulegen. Doch in dem zurückhaltenden Mädchen beginnt sich Widerstand zu regen, gegen die totale Kontrolle der so ängstlich liebenden Mutter (im leisen Minenspiel der fanatisierten Mutter großartig: Barbora Bobuľová), gegen die schützende Gemeinschaft der Kirche, die ihr so lange ein geborgenes Zuhause bot. Es ist keine offene Rebellion, vielmehr ein mühsames Ringen darum, dem einsetzenden Ersticken zu entrinnen.
Weil er Agnesa laufen ließ, verliert Stefano seine Stelle im Supermarkt und muss einen Job als Parkplatzwächter annehmen. Es ist ein öder Ort in diesem ohnehin tristen Vorort von Rom. Stefano muss den ganzen Tag auf dieser heruntergekommenen Brache voller Müll und Schutt verbringen, nicht einmal ein Verschlag schützt ihn vor Sonne und Regen. Auf einem Teil des Geländes befindet sich ein eingezäuntes Barackenlager, in dem illegal Roma leben. Es kommt zu Wortgefechten, Stefano verbietet ihren Kindern, auf dem Platz Fußball zu spielen, einmal wird er von jungen Männern mit Steinen beworfen. Als Kind der Straße fühlt er sich bedroht von diesen Menschen auf der anderen Seite des Zauns. Diesen Ort gibt es wirklich, auf diesem Parkplatz herrschen genau diese Arbeitsbedingungen und in den Baracken hinter dem Zaun haben tatsächlich einige Romafamilien eine Bleibe gefunden. Die Authentizität der Inszenierung verhindert, dass den Filmbildern auch nur ein Fünkchen falsche Sozialromantik oder aufgeladene Symbolik anhaftet.
Als Agnesa ihre Mutter dabei begleitet, als sie den Roma Kleidung bringt, begegnen sich die beiden jungen Menschen wieder. Mittels des gestohlenen Handys verabreden sie sich, fahren gemeinsam ans Meer und entrinnen ihren Lebenswelten. Was für ein Paar, der prollig-kraftstotzende Stefano (Simone Liberati) und die borstig-leise Agnesa (Selene Caramazza). Plötzlich erscheint eine Zukunft möglich, jenseits erstickender Mutter- und Christusliebe auf der einen Seite, jenseits sozial verelendeten Eltern samt verhasstem, weil prügelndem Vater auf der anderen Seite. Doch die Unbeschwertheit und Freiheit der jungen Liebe währt nur kurz, jäh folgen Absturz und Katastrophe.
Am Anfang des Projekts zum Langsfilmdebüt des jungen Fotographen und Videokünstlers Roberto de Paolis (Jahrgang 1980) stand eine kurze Zeitungsmeldung: Nachdem bekannt geworden war, dass ein junges Mädchen von Roma vergewaltigt worden war, lynchte der Mob in einem Vorwort von Rom zwei junge Männer. Allerdings stellte sich anschließend heraus, dass das Mädchen die Vergewaltigung erfunden hatte, weil die strenggläubige Christin ein Keuschheitsgelübte gebrochen hatte. Das Wunder von Cuori puri ist nun, ausgehend von dieser grausamen Nachricht eine große Liebesgeschichte zwischen zwei jungen, grundverschiedenen Menschen zu erzählen. Agnesa und Stefano sind beide auf ihre eigene Art gefangen in ererbter Schuld und Auswegslosigkeit, gemeinsam aber wagen sie es, aus ihren Welten auszubrechen.
Roberto de Paoli recherchierte mehrere Jahre für den Film, lebte viele Monate in den römischen Suburbs, nahm am Leben in einer christlich-fundamentalistischen Gemeinde teil, lernte Roma-Communities kennen und das Leben in den tristen Sozialbunkern der italienischen Unterschicht. So gelingt es ihm, in Cuori puri die Perspektive der beiden Protagonisten glaubwürdig einzunehmen und die Geschichte realistisch zu inszenieren. Hier werden keine einfachen Erklärungen geliefert, sondern die Unentrinnbarkeiten von sozial bedingten Zwängen und Nöten geschildert. Statt philanthropischem Betroffenheitspathos setzt Roberto de Paolis auf sorgfältige Recherche, improvisiertes Schauspiel, Originalspielstätte und genaue Kenntnis der Milieus. Roberto de Paolis und sein Team beobachten genau und erzählen mit nüchternem und zugleich menschenfreundlichem Blick eine große Geschichte in einer widerborstigen Welt.