Brüggemanns Heil!

30.6.2015. Wir befinden uns in Prittwitz (neue Bundesländer), unsere Neonazis, das ist eine „Kameradschaft“ der Deutschnationalen Partei, das Trio aus einem eitlen Anführer, einem hirnfreien Schläger und dem Dicken, der sich immer zurückgesetzt fühlt. heilUnd schon geht es los: Angestachelt von seiner Angebetenen (Anna Brüggemann als prollige Nazibraut Doreen) beschließt der Anführer Sven (Benno Führmann, sorry: Fürmann, kann der herrlich hohl mit seinen großen blauen Augen schauen!) Polen zu überfallen. Das heißt vielmehr, heimlich in Polen einzumarschieren, von der anderen Seite aus als Polen getarnt Deutschland zu beschießen und so die Deutschen zu seiner Invasion Polens zu provozieren. Die sind nämlich nicht aufm Kopp gefallen. Hm, genau.

Selbstredend werden alle Drei als V-Männer von gemütlichen Verfassungsschutzonkeln geführt und mit Hundertern gefüttert.
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Und so wurde der Dienstag

In großer Vorfreude radel ich durch die mittägliche Sommerhitze zum Schwabinger Kino, hole mir noch ein Eis und beobachte vor dem Kino entspannt die Festivalbesucher. Als ich fünf Minuten vor Vorstellungsbeginn selbst reingehen will, stelle ich fest, dass ich meinen Kalender samt Kinokarten zu Hause liegen gelassen habe. Scheiße. Ich also wieder aufs Rad und fetze wie eine Irre nach Hause, hoffe inständig, dass die Festivalbetreiber ihre Drohung nicht wahr machen, niemanden mehr nach Vorstellungsbeginn reinzulassen. Außer Atem, verschwitzt und sonnenbebrillt stolpere ich in den Saal, es ist ausverkauft, umständlich krame ich meine normale Brille aus der Tasche, nur vorne in der ersten Reihe wären noch ein paar Sitze frei. Doch auf Nackenstarre habe ich wirklich keine Lust, auf der Treppe darf ich nicht sitzen (Fluchtweg!) und so verfolge ich den Film vom Boden hinter der letzten Reihe aus. Ich sehe zwar nur einen Teil der Leinwand, aber es geht schon. Viel kann ich nicht verpasst haben, lediglich eine Art Vorerzählung, dann kommt der krawallige Vorspann mit punkiger Musik und trashiger Verarsche deutschnationaler Symbole, das lässt sich super an!

Nach der Vorstellung gibt es den Hauptdarsteller Jerry Hoffmann sowie Brüggemann himself, meine Güte, ist das eine (angenehme) Plaudertasche, endlich mal jemand, der viel und witzig und dabei nicht völlig Abseitiges redet. Nicht unsympathisch, beim hippen Kinovolk im Saal kommt er ebenfalls gut an, auch wenn niemand Fragen stellt – jedenfalls nicht, so lange ich da bin, denn: Ich muss los! Also wieder aufs Rad und bei mittlerweile gefühlt vierzig Grad mit ordentlich Karacho die Leopoldstraße runter – ich muss mich wirklich sputen, um rechtzeitig in das Kino in der Innenstadt zu kommen. Dort schaffe ich gerade mal aufs Klo und schon sitze ich im kleinen Saal – diesmal, und im Kontrast zum hippen Filmvolk gerade eben, inmitten grauhaariger Herrschaften. Ich bin freudig überrascht, wie viele Zuschauer der Film ins Kino gelockt hat. Mein heutiger Filmtag ist in der Kombination dieser beiden Filme wirklich krude. Den endgültigen Kulturschock erleide ich dann, als die ersten Bilder über die Leinwand flimmern – von der Extrem-Neonazi-Groteske zu verwackelten Handkamera-Schwarzweißbildern staubiger Straßen in der chinesischen Provinz…

So wird der Dienstag

Nach der gestrigen Pleite heute ein neuer Anlauf in die Filmfestbegeisterung. Natürlich kann es während eines Festivals gar nicht anders sein, dass mir mal ein Film nicht gefällt. Aber: Der Pasolini hat mir ja auch nicht wirklich gefallen, die gestrige Pleite dagegen war einfach nicht auszuhalten – da frage ich mich schon, wer die Auswahl der Filme getroffen hat… Jetzt aber Schluss damit!

Heute Nachmittag erwartet mich Dietrich Brüggemanns Heil! Auf meinem vormittäglichen Streifzug durchs Internet (ich hatte ja nichts zu tun – über die gestrige Pleite schreiben konnte ich ja nicht) sah ich mir den Trailer an und musste sehr über ein paar flache Witze lachen. Allerdings las ich auch schon zwei vernichtende Kritiken. Also: Ich bin wirklich sehr gespannt.

Direkt im Anschluss das Kontrastprogramm: Poet on a Business Trip von Ju Anqi, ein chinesisches Roadmovie über einen Dichter, der von Peking 4000 Kilometer in die Provinz Xinjiang fährt, das Land, in dem die Uiguren wohnen. Im Programm steht: „Radikales chinesisches Indie-Kino at its best!“. Uff!

Montagspleite

Montag, 19.30 Uhr, Sendlinger Tor: Eadweard, ein kanadischer Film von Kyle Rideout über den amerikanischen Fotographie-Pionier Eadweard Muybridge (1830-1904), der das bewegte Bild erfand. Ein schöner Film zu einem Filmfestival, schien mir. Und kaufte direkt eine Karte für Tanja mit.

Wir haben es dann gerade mal fünfzehn Minuten ausgehalten, dann mussten wir gehen. Was für ein affektiertes und bemüht überdrehtes Stück Film! Unsere beiden – durchaus oft divergierenden – Geschmäcker jedenfall verfehlte es vollständig. Mir bereitete das Spiel der Schauspieler und die gestelzten Dialoge regelrechtes Unbehagen. Obwohl gelacht wurde im Saal, muss man der Gerechtigkeit halber anmerken – aber gelacht wurde auch bei Jesus liebt mich, bei dem ich jede Sekunde und jeden einzelnen ausgegebenen Cent bereut hatte.

Sicherlich sind Geschmäcker verschieden, aber ich kann mich kaum daran erinnern, wann ich das letzte Mal etwa eine DVD vor dem Ende des Films aus dem Player geworfen oder gar aus dem Kino gegangen wäre. Und ich bin ja schon jemand, der sich ziemlichen Schrott ansieht… Aber es ist bestimmt überhaupt nicht zulässig einen Verriss eines Filmes zu schreiben, von dem überhaupt nur ein paar Minuten gesehen hat. Also lass ich das jetzt.

‚Pasolini‘ und ‚The Golden Era‘

29.6.2015. Mir scheint, als seien die Filmfestbesucher überall in der Stadt. Auf dem Rad möllere ich fast einen älteren, stark übergewichtigen Mann um, der sich, für mich uneinsehbar, hinter der Ecke Schritt für Schritt die Straße entlang müht – trägt eine Filmfesttasche um den verschwitzten Hals! Im Café reden neben mir zwei mittelalte hippe graubebartete Typen wichtig über – die Andy Warhol-Retrospektive! Überall starrt mich die komische Brille des nicht besonders gelungenen Filmfestplakats an… Vielleicht ist ja heute mein Ermüdungstag, wie der dritte Tag beim Skifahren, wer weiß?

thegoldeneraDabei habe ich das FFM bislang eigentlich sehr genossen. Gestern war es wieder so wunderbar! Mein 178-minütiger chinesischer Angstfilm The Golden Era entpuppte sich als epische Erzählung über das Leben der chinesischen Schriftstellerin Xiao Hong in wirren Zeiten, abgesehen von den vielen chinesischen Namen und den mir völlig unbekannten historischen Ereignissen rund um den chinesischen Bürgerkrieg und der japanischen Invasion in den 30er Jahren, bei denen ich nicht ganz mitgekommen bin, ein richtiges Kinovergnügen, vor allem auf der riesigen Leinwand im Filmtheater Sendlinger Tor!

Wegen des gruseligen Programms verschlägt es mich sonst nur sehr selten in dieses letzte große alte Kino in München, mit Loge und Balkonen und wie es sich gehört, alles in rotem Plüsch. Dass man sich hier wie in den spießigen 50er Jahren fühlt, dafür sorgt dann auch die Kinobetreiberfamilie Fritz Preßmars, die Mutti verkauft mir an der Bar einen Filterkaffee, den mir vor den drei Stunden noch dringend einverleiben muss, und ein bulliger unangenehmer Mann – war es Preßmar selbst ? – verscheucht mich mit groben Drohgebärden, als ich es mir gerade mit Kaffee und Zigarettchen auf der Stufe vor dem Kino gemütlich machen möchte… Wie mir das nur einfallen konnte, wie ein Penner… Ach so: Nach dem Film das übliche ewige Warten auf der Damentoilette, ich bin eine der letzten. Ich hänge gerade über der Schüssel, da gellt eine weibliche Stimme: „Jetzt aber ein bisschen Beeilung, die Damen! Sehn se zu, dass Sie endlich fertig werden!“

Während des Filmfestes ist das Publikum internationaler als sonst. In The Golden Era sitze ich mit einer ganzen Menge asiatischer Frauen im Saal, im Pasolini am Samstag in der Spätvorstellung waren viele Italiener und Franzosen im Publikum. Schön! Allerdings – und da bleibt München eben anscheinend doch München, egal wie international es beim Filmfest auch daher kommt – ins Gespräch kam ich bislang trotzdem mit niemandem … Dabei hätte ich vor allem für meine Ratlosigkeit, was den Pasolini angelangt, tatsächlich Redebedarf…

pasoliniDer Kontrast zwischen den biographischen Filmen Pasolini und The Golden Era könnte nicht größer sein, hier ein Tag, dort das ganze Leben, hier radikale Innensicht, dort Zeugnisse von Weggefährten, hier stehen das Werk und die politischen Ansichten im Mittelpunkt, dort die Persönlichkeit und der Lebenslauf, hier die große intellektuelle Geste von Abel Ferrara, dort die sympathisierende und zurückhaltende Präsentation durch Ann Hui.

thegoldenera2Im Unterschied zum Pasolini fahre ich jedenfalls nach The Golden Era sehr beschwingt durch die Abendsonne nach Hause. Obwohl die kurze Lebensgeschichte der Xiao Hong alles andere als glücklich war, hat der Film von Ann Hui auf mich eine erhebende Wirkung: Dass sich ein solch fragiler Mensch in einer derart von Konventionen geprägten Zeit seine innere Freiheit bewahren konnte! Beeindruckend.

Den Pasolini habe ich wohl einfach nicht verstanden, ich weiß viel zu wenig über den italienischen Regisseur und habe – wenn ich mich richtig entsinne – nur Accattone gesehen (und war schwer beeindruckt – aber auch etwas sprachlos angesichts der Schroffheit des Films). Natürlich war Willem Dafoe toll, aber der ganze Film kam für meinen Geschmack etwas anmaßend daher, tat so, als könne er in seine Person hineinsehen, zugleich bleibt alles etwas enigmatisch. Filmausschnitte aus Salò wechseln mit einer vorgelesenen Erzählung, die Pasolinis nächstes Filmskript zu sein vorgibt (oder tatsächlich war?), die Abel Ferrara dann mit fiktiven Pasolini-Film-Bildern illustriert. Pasolini als politischer Mensch, kompromisslos in seiner kritischen Haltung – nahm er mit seiner radikalen Bildungs- und Kapitalismuskritik nicht sogar heutige Problematiken vorweg? Wesentlich mehr erfahre ich über Pasolini nicht. Am Schluss des Filmes über den letzten Tag in Pasolinis Leben wird er dann bei einem nächtlichen sexuellen Stelldichein am Strand von Jugendlichen zu Tode geprügelt und mit dem eigenen Auto überfahren. Wirklich schlimm, wusste ich aber schon vorher. Ach ja: Mit dem Zusammenbruch der Mutter am nächsten Tag als Reaktion auf die Ermordung ihres Sohnes presst uns Ferrara dann schließlich noch etwas Rührung ab. Kann mir mal jemand die Relevanz dieser Szene erklären? Aber wie gesagt, ich habe den Film sicherlich nicht richtig verstanden.

Es ist Sonntag nachmittag…

… und gleich muss ich in den chinesischen Film The Golden Era, vor dem ich wegen seiner Länge (einhundertachtundsiebzig Minuten), aber auch seiner formalen Machart einigen Respekt habe. Das ist mein einziger Film heute. Und trotzdem hänge ich völlig hinter her. Das Vorhaben, sich vor dem jeweiligen Film zumindest rudimentär im Internet zu informieren, hat noch kein einziges Mal geklappt. Dann sind bislang gerade mal zwei Rezensionen da. Und den Film über Pasolini, den ich gestern in der Spätvorstellung sah, habe ich noch nicht einmal richtig verdaut. Das einzige, was ich sagen kann: Er hat mir nicht gefallen. Blloß weiß ich noch nicht, warum.

Ein kapitaler Fehler war es wohl, am Freitag auf eine – wenn auch tolle – Party im Rahmen der Offenen Ateliers mit Livemusik gegangen zu sein, wo mir im ganzen Festival- und Blog-Überschwang das Bier so gut schmeckte, dass ich gestern lange schlafen musste und dann mit ordentlich Watte um den Kopf durch den Tag gestolpert bin.

Gerade zweifel ich jedenfalls daran, ob aus mir überhaupt eine „richtige“ Filmfestivalgängerin werden kann, jedenfalls kann ich jenem Besucher auch nicht nur annähernd das Wasser reichen, der gestern abend neben mir in der Menschenmasse vor dem Kino auf den Einlass wartete, den Festivalpass mit Foto um den Hals und im Festivalplan herumkritzelnd seine Festival-dedication demonstrativ zur Schau trug und es sich nicht nehmen ließ, mich darüber aufzuklären, dass Abel Ferraras Film über Pasolini heute sein sechster Film sei.

Na ja.

Theeb

27.6.2015. Mit ausgetrocknetem Mund und ins gleißende Licht blinzelnd stolpere ich die Treppen herauf, die mich aus der Welt der Wüste in den sonnigen Nachmittag in München Schwabing entlassen. Was für ein Film! Etwas belämmert stehe ich am Rad und muss mich konzentrieren, um herauszufinden, wie das noch mal funktionierte, das mit dem Aufsperren und so. Einhundert Minuten lang fieberte ich gerade in einem spannenden westernartigen Abenteuerfilm mit dem Beduinenjungen Theeb mit – vor der großartigen Kulisse der  jordanischen Wüste.

theeb_2014Kino pur, großartige Landschaftsaufnahmen, unbedingt im Kino, unbedingt auf richtig großer Leinwand ansehen. Nur wenige Minuten dieses ruhig gedrehten und bedächtig geschnittenen Films reichen, um in mir jenes rare, zufriedene, an Glück heranreichende Gefühl auszulösen, in schönen Bildern zu baden, den Wunsch, der Film möge bitte ganz lange nicht aufhören.

Es geht um die Welt der Beduinen, kurz bevor ihre ursprüngliche Kultur mit der Bildung nationalstaatlicher Grenzen zerstört und viele Angehörige dieser Nomadenvölker brutal massakriert wurden. Zusammen mit Theeb (großartig: Jacir Eid), dem vielleicht zehnjährigen Beduinenjungen – der ganze Film ist konsequent aus seiner Perspektive erzählt -, tauchen wir in diese untergegangene Welt ein. Doch auf Theebs Reise wird deutlich, wie sehr diese Welt bereits im Untergang begriffen ist, die alten und heeren Gesetze der Bruderschaft gelten nicht mehr, die Wüste wird mit der Eisenbahn erschlossen und Stationen mit der Verwaltung des osmanischen Staates in die Wüste gepflanzt.

In Europa wütet der Erste Weltkrieg und erreicht in Gestalt eines jungen britischen Soldaten auch die Welt von Theebs Stamm und erbittet Hilfe bei einer Reise. Als der Engländer unter Führung von Hussein, Theebs geliebtem älteren Bruder aufbrechen, schließt sich der Junge ihnen heimlich an.

theeb_hussein

Es ist nicht ganz treffend, Theeb als Abenteuerfilm zu bezeichnen, schon eher trifft das Label Western, es gibt Überfälle, wilde Schießereien und eine Rache. Es gibt zwar nur wenige Pferde, dafür aber ganz viele Kamele, die komische Geräusche machen und die die Kamera irgendwie immer mit ins Bild bekommt, sie kauen, schneiden Grimassen und zeigen ihre ziemlich bedrohlichen Zähne. Für Kamelfreunde ist dieser Film ein absolutes Muss.

Für die auf 16-mm-Film gebannten Bilder verantwortlich ist der Österreicher Wolfgang Thaler, der bereits mit Michael Glawogger zusammengearbeitet sowie mit Ulrich Seidl etwa die Paradies-Trilogie gedreht hatte. Der adrette – junge, Jg. 1981! – jordanische Filmemacher Naji Abu Nowar erklärte im Anschluss an die Aufführung, wie es zu dieser jordanisch-österreichischen Kooperation gekommen ist: Thaler sei einer der wenigen Kameraleute auf der Welt, der die schwierigen Dreharbeiten packen konnte. Er selbst habe vorher noch nie eine Kamera in der Hand gehalten und sei völlig auf die Professionalität des Kameramannes angewiesen gewesen, auf jemanden, der in den schwierigen Bedingungen der Wüste und auf Film drehen kann und sowohl Erfahrung mit Laienschauspielern als auch Respekt vor anderen Kulturen hat.

Theeb ist eine beeindruckende low budget-Produktion und die jahrelange und mühselige Entstehungsgeschichte des Films spiegelt die schwierigen Produktionsbedingungen in Jordanien wider. Die konkreten Vorarbeiten erinnern mehr an eine ethnographische Studie denn an Recherchen für einen Film. Naji Abu Nowar lebte ein Jahr in der jordanischen Wüste im Wadi Rum bei einem der letzten, mittlerweile freilich unter Zwang sesshaft gewordenen Nomadenvölker. Die gesamte Ausstattung des Films wurde von den Beduinen mit ihrem sich im Vergessen befindlichen Wissen selbst hergestellt, die Darsteller in einem langwierigen Prozess unter den Leuten gecastet.

Theeb ist ein fulminantes Spielfilmdebüt, das auf seiner Europapremiere auf der Mostra in Venedig direkt den Preis für die beste Regie erhalten und auf dem arabischen Filmfestival in Abu Dhabi als bester Film ausgezeichnet wurde. Die heutige Vorstellung war die Deutschlandpremiere. Es gab viel Applaus im gut besuchten großen Saal und eine Menge Publikumsfragen.

Es war sehr schön!

Dólares de arena

dolares_filmplakat26.6.2015. Noeli ist hin- und hergerissen zwischen zwei möglichen Lieben und zwischen zwei möglichen Leben. Sie liebt den gleichaltrigen jungen Mann, der ihr nur das schwierige Leben in den elenden Verhältnissen bieten kann, aus denen sie beide stammen. Und sie wird geliebt von Anne, einer Französin in ihren Siebzigern, die ihr eine abgesichterte Lebensperspektive verspricht und: Geld –  Dólares de arena (Sand Dollars).

Dann ist da das Meer, die Hitze und die tropischen Regengüsse, die Bilder changieren von überblendeten Szenerien bis hin zu tableauhaften Aufnahmen. Wir gehen mit den Protagonisten an den Strand, wohnen im licht- und luftdurchflutenen modernen Holzbungalow und der einfachen dunklen Hütte, tanzen in Bars zu lauter Musik und hören dem alten Mann zu, der zu karibischen Rhythmen melancholische Verse über unmögliche Lieben singt. Noeli verkauft sich für eine Zuwendung an ältere europäische Männer, Anne sitzt auf der Veranda einer riesigen Villa im Kolonialstil und unterhält sich in ihrer – weißen – Gesellschaft im charmanten französisch-englischen Sprachmix gepflegt über das Leben und die Politik. Paradies und soziale Ausweglosigkeit Seite an Seite. Ansonsten wird nicht viel gesprochen in diesem Film über Menschen in der Dominikanischen Republik. Ein kurzer Satz mal, überwiegend herrscht Sprachlosigkeit.

dolares2In dieser Geschichte sind die Menschen gefangen in ihren emotionalen und materiellen Abhängigkeiten. Anne leidet sehr an ihrer Beziehung zu dem schönen, androgynen, schwarzen Mädchen, das sie für ihre Zuneigung bezahlen muss, sie ist sich ihrer würdelosen emotionalen Abhängigkeit schmerzlichst bewusst, ohne die Kraft zu haben, sich aus der Beziehung endgültig zu lösen. Und als Noeli nicht mehr hingehen mag, wird sie von ihrem Freund wie einem Zuhälter dazu gedrängt, sind sie doch beide von Annes Zuwendungen materiell abhängig. Dann wird Noeli schwanger. Und jetzt muss sich die junge Frau zwischen echter Liebe und materiell abgesicherter Lebensspektive für sich und für ihr ungeborenes Kind entscheiden – eine Geschichte, die schon oft erzählt worden ist, aber selten so unsentimental, realistisch und die Dinge so genau beim Namen nennend wie in Dólares de Arena. Ein in vielen Hinsichten bemerkenswerter Film, der sich langsam und behutsam seinen Figuren nähert, zuerst die Lebenslust der älteren Frau zeigt, bevor wir ihr zerfurchtes Gesicht und ihren ausgemergelten Körper zu sehen bekommen, dem Mädchen die Hoheit über ihr Handeln lässt und damit ihre Würde. Und eine Zuneinung zulässt zu dieser fragilen wie agilen Dame.

Dólares de Arena, der mittlerweile vierte Spielfilm der jungen Dominikanerin Laura Amelia Guzmán (und ihres mexikanischen Coregisseurs und Ehemanns Israel Cárdenas), ist keine klassische epische Erzählung. Vielmehr werden uns Szene für Szene Einblicke gewährt in das laufende Geschehen. Dieser abgehackte Stil erzeugt den Eindruck, echte Menschen in ihrer widersprüchlichen Geschichte zu begleiten. Außerdem schafft die Regisseurin es auf diese Weise, bemerkenswert viele (sehr schwierige) Themen wie Prostitution, soziale Verelendung, postkoloniale Gesellschaft, aber auch Einsamkeit im Alter anzusprechen, ohne dass der Film einem mit dem moralischen Zeigefinger vor der Nase herumfuchteln würde. Vieles wird durch die großartige schauspielerische Leistung der beiden Hauptdarstellerinnen (Yanet Mojica und Geraldine Chaplin) mit minimalen Gesten lediglich angedeutet. Ein im besten Sinne authentischer Film über wirkliche Menschen in einer schwierigen und ungerechten Welt.

Der erste Tag: Kartenkauf

25.6.2015. Gerade habe ich die Weichen gestellt und die Karten gekauft. Gestern hatte ich mir in mühsamer Kleinstarbeit ein Programm zusammengestellt. Allerdings: An der Kasse stehend, die Schlange hinter mir und der Streifen mit den Tickets vor mir immer länger werdend, muss ich gestehen, dass mich meine ursprüngliche euphorische Zuversicht etwas im Stich ließ, ich würde cinephil jeden Tag von morgens bis Abends in so ’ner Art Festivalrausch meine mindestens sechs Stunden im Kino verbringen und zwischendurch schnell geniale Rezensionen in dieses Blog schreiben. Ich beschränkte mich dann nur noch auf die absoluten Highlights, die ich auf meinem A4-karierten handgeschriebenen Zettel unterstrichen hatte. In der gewünschten Vorstellung ausverkauft war als einziger Film auf der Liste (und der war nicht unterstrichen!) der neue Isabelle Coixet-Film (Learning to Drive mit Patricia Clarkson als mittelalte Fahrschülerin und einem geschminkten Ben Kingsley mit Turban als indischem Fahrlehrer – einmal Ghandi, immer Ghandi, oder was? -, das gruselige Plakat hat das Bedauern gemildert). Trotz meiner spontanen Programmreduktion und Ermäßigung (arbeitslos) habe ich fast neunzig Euros an der Kasse gelassen.

Die meisten Filme sehe ich mir alleine an, nur in zwei Vorstellungen habe ich Begleitung: Tanja kommt mit zum Biopic über Eadweard Muybridge (1830-1904), einem frühen Fotographen und Filmemacher, und Günter in den Dokumentarfilm Projekt A über alternative Lebensformen und Gemeinschaften.

Erst im Nachhinein bemerkte ich, dass der Spielfilm The Golden Era über die chinesische Schriftstellerin Hong Xiao, die bereits in den 1940er Jahren nach kurzem Leben von nur 32 Jahren verstorben ist, schlappe 178 Minuten lang ist. Ich muss gestehen, wenn ich das Programm vorher sorgfältiger gelesen und mir dies aufgefallen wäre, hätte ich mir wahrscheinlich diesen Film gespart – drei Stunden chinesisch-experimenteller Film, wenn man Glück hat, mit englischen Untertiteln… Drückt mir die Daumen, dass ich durchhalte.

Das Münchner Filmfest wirbt mit großen bekannten, mich nicht besonders interessierenden Namen: mit einer Alexander Payne-Retrospektive (Sideways fand ich recht mäßig, The Descendents mit George Clooney ganz hübsch, aber weitgehend konventionell, und About Schmidt mit dem gealterten Jack Nicholson auch nicht gerade revolutionär), dann mit Andy Warhol-Filmen (kuratiert von der Eichinger-Witwe Katja – die Münchner Schickeria lässt grüßen), einer Retrospektive von Jean-Jacques Annaud (auch hier die Eichinger-Connection mit seinem von Bernd produzierten Kassenschlager Der Name der Rose). Am interessantesten sicherlich die Retrospektive von bad boy und Schwulen-Ikone Rupprecht Everest (sorry: Rupert Everett). Doch noch ein Wort zu Warhol: Wahrscheinlich sind die Filme der totale Knaller, künstlerisch wertvoll und überhaupt, manche von ihnen werden in Deutschland zum ersten Mal gezeigt und so! Auf keinen Fall verpassen!! Aber abgesehen davon, dass ich jenseits von Museumsmauern immer etwas zu bequem für Kunstfilme war, rede ich mich dieses Mal auf den München-Faktor aus. Vielleicht habe ich einfach keine Lust, mit dem hiesigen kulturbeflissenen Publikum, das überwiegend aus ergrauten und eine Aura an altersweisen Besserwisserei ausstrahlenden Best-Agern und, wenn man Glück hat, aus bebarteten hipster-Kunststudenten besteht, Männern im schlimmsten Fall dabei zuzusehen, wie sie sich einen abrödeln.

Das einfache Prinzip hinter meiner Auswahl lautet: (1) Filme, die es voraussichtlich nicht in die Kinos schaffen werden, und (2) Filme, auf die ich einfach Lust habe. In die Kategorie (2) fällt zweifelsfrei Brüggemanns Nazi-Groteske Heil, auf den ich mich wirklich sehr freue. Zu (1) gehören vor allem Filme aus dem Weltkino. Mit dieser Strategie bin ich letztes Jahr prima gefahren, in Erinnerung geblieben sind mir vor allem der tolle, formal strenge und sehr sehr lange I’m Not Him vom türkischen Filmemacher Tayfun Pirselimoglu, Run aus der Cote d’Ivoire und der großartige Es-Stouh – Les Terrasses des Algeriers Merzak Allouache. Etwas irritierend finde ich, dass auch dieses Jahr auf dem Festival wieder eine Reihe von Filmen laufen, die eh in diesen Wochen anlaufen (etwa Noah Baumbachs While We’re Young, die norwegische Groteske Men & Chicken von Anders Thomas Jensen, Escobar: Paradise Lost mit Benicio Del Toro und Loin des hommes mit Viggo Mortensen). Das ist wohl dem Motto des FFM geschuldet, die besten Filme des Sommers zu zeigen. Naja.

Gleich geht es los mit Dolares de Arena (der internationale Titel lautet: Sand Dollars), einem Film aus der Dominikanischen Republik über eine lesbische Beziehungsgeschichte zwischen einer älteren reichen europäischen Frau (Geraldine Chaplin in einer bemerkenswert ungewöhnlichen Rolle) und einer jüngeren Einheimischen zwischen Kolonialismus, Sextourismus und gegenseitigen Abhängigkeiten. Ich bin ja mal gespannt!!!!

Morgen dann am Nachmittag Theeb, ein jordanisches Wüstenabenteuer, das in der Zeit des europäischen Zweiten Weltkriegs spielt, und in der Spätvorstellung (nach dem Abendessen bei Freunden) gibt dann mein beloved Willam Dafoe für mich den Pasolini am letzten Tag seines Lebens.