historia de mi nombre

In ihrem Erstlingsfilm (Weltpremiere auf dem IFFR 2019) geht die junge chilenische Filmemacherin Karin Cuyul (Jg. 1988) auf dokumentarische Spurensuche nach ihrem Namen, die tief in die Geschichte ihrer Familie eindringt. Sie wurde benannt nach Karin Eitel, die im Untergrund gegen die Pinochet-Diktatur gekämpft hatte, 1987 verhaftet und dann im staatlichen Fernsehen live unter Folter zu einem Geständnis gezwungen worden war. Eine innere Unruhe hatte die Macherin von Historia de mi nombre Karin Cuyul dazu veranlasst, filmisch dem Bild nachzuforschen, das die Eltern jener Karin Eitel später bei einer Begegnung von ihr gemacht hatten. Sie legt ihrer Recherche strenge Regeln auf: Sie möchte im Film nur Fragen stellen, die sich mit filmischen Mitteln beantworten lassen. Außerdem beschäftigt sie sich mit der Geschichte ihres Namens nur soweit es sie auch selbst betrifft. Ein radikaler Ansatz, der in bildlicher sowie narrativer Hinsicht eine Ästhetik der Behutsamkeit und des unbedingten Wahrheitsstrebens mündet, zugleich aber im Impliziten, Vorsichtigen und in der Andeutung verharrt. „historia de mi nombre“ weiterlesen

rih rabani – divine wind

Drei Personen, ein abgelegenes Haus in der algerischen Wüste, der Dschihad. Die Personen – eine junge Frau, ein junger Mann, eine alte Frau – kennen einander nicht. Es ist ein  konspiratives Treffen: Die beiden jungen Menschen bereiten ein Selbstmordattentat im Auftrag des Islamischen Staates auf eine Ölraffinerie vor. Die alleinlebende alte Frau bietet den Terroristen Unterschlupf und kocht für sie. Zwischen den drei Personen entspinnt sich ein spannungsgeladenes, indes leise artikuliertes Spiel um Macht und Unterwerfung, um Liebe und Demut, um Gehorsam, um Manipulation und gegenseitige Anziehung. Den Hintergrund bildet die Einsamkeit und fruchtlose Ödnis der Wüste, eingefangen in ausladenden Großformat-Aufnahmen in Schwarzweiß (wunderbare Bilder von Mohamed Tayed Laggoun). „rih rabani – divine wind“ weiterlesen

fabiana

Eine der ersten Einstellungen im Profil, mit der Kippe im Mund, der Blick konzentriert nach vorn auf die Straße gerichtet, den Ellbogen lässig am offenen Fenster, der Wind streicht ihr durchs Haar. Fabiana: Transgender, Lesbe. Truckdriver. Was für eine mutige, coole und freie Frau!

In den 89 Minuten des Films begleiten wir Fabiana zusammen mit der Regisseurin auf ihrer letzten großen Fahrt quer durch Brasilien, bevor sie sich nach dreißig Jahren on the road in den Ruhestand verabschiedet. Zusammengeschnitten aus 80 Stunden Material von Fabiana plus 20 Stunden Landschaftsaufnahmen, aufgenommen auf elf Tausend Kilometern Strecke durch Brasilien in 20 Tagen. Brunna Laboissière begegnete Fabiana zufällig, als sie per Anhalter zu ihren Eltern fuhr. Laboissière sagt vor dem Film, es gehe ihr selbst oft mehr um die Reise als um das Ankommen. Sie fährt zuerst beim Trampen einen ganzen Tag mit ihr, sie reden und reden, am Ende tauschen sie Telefonnummern aus. Die Idee eines dokumentarischen Porträts entsteht.

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Ying – Shadow

Mit Ying – Shadow des Wuxia-Film-Großmeisters Zhang Yimou (Hero, The House of the Flying Daggers) beginne ich das Rotterdamer Festival mit einem Genrefilm in Blockbuster-Dimension – und dies auch noch auf der riesigen Leinwand im Grote Zaal des Schouwburg-Theaters! Das alles verspricht Kino-Unterhaltung vom Feinsten.

Doch die Freude über abgefahrene Ästhetik mit dem schwarz-weiß-(dunkel-)rotem Farbdesign hält nur kurz vor, die technisch hochelaborierte und -gerüstete Inszenierung verliert in ihrer krassen Künstlichkeit erstaunlich rasch ihre Faszination. Außerdem dauert es ziemlich lange, bevor da jemand wirklich durch die Luft wirbelt oder einen Stock (und hier: Regenschirm) in die Hand nimmt, um den Gegner stilvoll zu verdreschen. Und da bin ich auch schon gelangweilt. „Ying – Shadow“ weiterlesen

hannah

Hannah, eine ältere Frau, lebt irgendwo in einer belgischen Stadt in einer dunkel eingerichteten Mietswohnung mit ihrem Mann. Sie essen gemeinsam zu Abend, das Fernsehen läuft, später spült sie ab. Wortlose Routinen. Als sie zu Bett gehen, sagen sie „Gute Nacht“, löschen das Licht und drehen sich voneinander weg. Dann liegt sie da, mit offenen Augen. Am nächsten Morgen braucht Hannah länger im Bad, doch das Taxi wartet schon und sie muss sich beeilen. Sie fahren zusammen. Kurz vor der Ankunft gibt der Mann ihr den Ehering und die Uhr. Dann ein Gittertor und Anstaltskleidung. Als sie allein nach Hause fährt, nimmt sie die Metro. „hannah“ weiterlesen

ammore e malavita

Eingestimmt auf den Grad des Unsinns, der fast 140 Minuten lang auf uns niedergeht, sind wir spätestens, wenn wir am Anfang von Ammore e malavita/Love and bullets zusammen mit einer Gruppe von Amerikanern vor den Betonburgen der neapolitanischen Suburbs tanzen und über den ultimativen touristischen Thrill singen, die Brutstätten der Camorra in echt zu sehen! Unverfroren und mit sichtlichem Vergnügen bastelten die Manetti-Brothers aus den beiden ehrwürdigen Genres Gangster- und Musikfilm ihren neuen Film zusammen: Spätestens als der vermeintliche Mafiaboss im Aggregatszustand einer Leiche im Sarg zu singen beginnt, wird einem klar: Oh Schreck, ein Mafiamusical! „ammore e malavita“ weiterlesen

ffm – tag drei

Heute geht es am Nachmittag in Xavier Beauvois‘ Les gardiennes über das Schicksal einer Gruppe von Frauen, die während des Ersten Weltkrieges nach dem Fortgang der Männer in den Krieg alleine den Bauernhof bewirtschaften. Das Thema interessiert mich jetzt nicht so rasend, aber da ich Beauvois‘ frühere Arbeiten sehr schätze, darunter so unterschiedliche Filme wie Des hommes et des dieux (2010), vor allem aber seinen drastischen Polizeifilm Le petit lieutenant (2005) mit Natalie Baye als abgefuckte Kommissarin, bin ich auf seinen neuen Film gespannt. Die Literaturverfilmung (Vorlage: Ernst Pérochon) entpuppt sich als Enttäuschung ohne jede Überraschung oder neue Blickweise wenngleich mit schönen Bildern von Caroline Champetier. Konventionelle Erzählung mit manchem Tränendrücker über heroische Frauen in schwierigen Zeiten, Liebesfreud wie -leid inbegriffen. Puh!

Später steht The Tale mit der großartigen Laura Dern (Certain Women) auf dem Programm, die Dokumentarfilmerin Jennifer Fox verfilmt hier eine sexuellen Kindesmissbrauch, der ihr selbst widerfahren ist. Als Dreizehnjährige hatte sie den Missbrauch zu einer Erzählung über eine Liebesbeziehung zu einem älteren Mann verarbeitet. Erst als Erwachsene realisiert sie in einem schmerzlichen Prozess, dass es sich keineswegs um eine romantische Liebe, vielmehr um ein Verbrechen gehandelt hatte. Fox stellt beeindruckend genau die Verarbeitungs- und Verdrängungsmechanismen dar, die ihr bis ins erwachsene Alter ermöglicht haben, nicht zu realisieren, was ihr eigentlich widerfahren war. Dabei gelingt es ihr, das Mädchen, das sie gewesen ist, und die erwachsene Frau, die sie jetzt ist, schlichten Opferkategorien zu entziehen. Ein starkes und mutiges Stück Kino, mit Isabelle Nélisse in der Rolle des Mädchens und Ellen Burstyn in einer tollen Nebenrolle als alte Mutter, die sich ihrer Verantwortung stellt. Eine unbedingte Empfehlung!

les garçons sauvages

Fünf (wilde) Jungs (garçons sauvages eben, gespielt von Schauspielerinnen) aus jeweils guten Stuben bilden eine Bande, haben Spaß und halten im Guten und „vor allem im Bösen“ zusammen. Bis sie es zu bunt treiben, ein Verbrechen begehen und zwecks Umerziehung einem raubeinigen Ahab-liken Kapitän überantwortet werden, der zu wissen meint, wie sich solch ein Gesocks pazifizieren lässt. Er nimmt die fünf auf eine Seereise, auf der er mit seinen rabiaten Strafmethoden den verzogenen jungen Männern bald ihre Arroganz und ihren hedonistischen Mammon-Götzen austreibt und sie zu Gehorsam – und zum Singen bringt, wobei dabei die Aussicht auf nähere Bekanntschaft mit dem prächtigen Gemächt des Käptns bei manchem auch eine Rolle spielt. Ziel der Reise: Eine mysteriöse Insel, die nirgends kartografisch erfasst ist, voller Gefahren steckt, sich zugleich als pralles Paradies der Wolllust entpuppt. Die Jungs jedenfalls lassen es sich nach der erschöpfenden Reise endlich wieder gut gehen, saufen aus phallusartigen Pinienzapfen milchige Flüssigkeiten und kopulieren mit Vulvapflanzen und im Überschwang auch mal miteinander. Doch birgt die unheimliche Insel ein Geheimnis, das sie für immer verändern wird… „les garçons sauvages“ weiterlesen

in the shadows

In the Shadows katapultiert den Zuschauer direkt in die laute Betriebsamkeit der Altstadt von Delhi. Das Gassenlabyrinth bildet eine abgeschlossene eigene Welt, die derart in sich verwinkelt ist, dass in diese Häuser, Hinterhöfe und Wohnungen kaummehr Licht gerät. In den verfallenen Gebäuden, die mit schweren Türen und Pforten, die mit alten Vorhängeschlössern und -ketten wie verfallene Festungen gesichert werden, zeichnet der Regisseur Dipesh Jain in seinem Langspiel-Debüt eine ruinenhafte Welt, in deren Sträßchen, vollgepfropft mit Menschen, Geschäften und Lärm, das Leben pulsiert. „in the shadows“ weiterlesen

ifff – fünfter tag: el pacto de adriana & those who remain

Nachdem ich den dritten Tag pausieren musste, konnte ich meinen Besuch des Internationalen Frauenfilmfests am vierten Festival- und meinem letzten Tag mit zwei wunderbaren Dokumentarfilmen beenden: Am frühen Abend sah ich im Filmforum des Museums Ludwig einen mich tief beeindruckenden chilenischen Film. Die junge Filmemacherin Lissette Orosco begleitete sich mit der Kamera bei ihrer Auseinandersetzung mit ihrer Lieblingstante Adriana, nachdem herausgekommen war, dass diese nicht nur bei der Pinochet-Geheimpolizei DINA gearbeitet hatte, sondern noch dazu in einem erst 2007 entdeckten Folter- und Todeslager. Die Nichte recherchiert, die Tante weist jede Verantwortung von sich – und hält sich an den Schweigepakt, ihren eigenen Pacto de Adriana. Ein ruhiger Film, in dem Orosco beeindruckend mit einfachen filmischen Mitteln den richtigen nüchternen Ton trifft. Am späten Abend ging es dann in Mayyel ya ghazayyel (Those Who Remain) der libanesischen Regisseurin Eliane Raheb, ein filmisches Porträt über Haykal, einen so eigenwilligen wie charismatischen Bauern und Restaurantbetreiber im Al-Shambouk-Gebirge. Ein Leben in wunderschöner Berglandschaft, aus der die Jungen in die Städte abwandern, und Bedrohungen des syrischen Kriegs und der ISIS nur wenige Kilometer entfernt sind.