si c’était de l’amour

Film kann so viel mehr sein als einfach ’nur‘ Spiel- oder Dokumentarfilm. Das ist das erste, was mir nach wenigen Minuten von Si c’était de l’amour in den Sinn kommt. Das, was da auf der Leinwand zu sehen ist, ist keine reine Dokumentation der Rave-Tanzperformance „Crowd“ von Gisèle Viennes; vielmehr setzt sich Patric Chiha mit filmischen Mitteln mit Tanz, den Tänzerinnen und Tänzern, mit den darstellten und dahinterliegenden Stories des Stücks, mit der Choreographie und der eigentlichen Show auseinander.

Die Handlung der Performance: ein Rave in den 1990ern, es wird getanzt, Techno, in slow motion. Allein, paarweise, in Gruppen, einander zu- und abgewandt. Ein äußerst komplexes soziales Gefüge und Verhalten. Den Tanz sehen wir in der Szenerie der abschließenden „Show“, die Darstellerinnen und Darsteller in Kostümen, es gibt ein Szenenbild mit Matsche auf dem Boden, die dröhnende Musik. „si c’était de l’amour“ weiterlesen

Miles Davis: Birth of the Cool

In der (ausverkauften) Spätvorstellung dann als Bonbon Miles Davis: Birth of the Cool des Amerikaners Stanley Nelson. Ein chronologisch erzählter Dokumentarfilm, der durch sein reiches Bildmaterial beeindruckt, aber vielleicht etwas konventionell erzählt und teilweise zu schnell geschnitten ist. Neben dem widersprüchlichen Charakter und dem enormen Erneuerungswillen sowohl im Jazz als auch des eigenen Selbst geht es auch um die Rolle von Miles Davis als (Vor)Bild und die Identifikationsfigur, die er als stolze, elegante und selbstbewusste öffentliche Persönlichkeit für die afroamerikanische Kultur und Community gespielt hat.

o que arde – Fire Will Come

O que arde – Das Feuer wird kommen beginnt mit einer Akte, die von Hand zu Hand gereicht wird: Da drückt jemand den Stempel aufs Papier, eine dicker Stapel wird zusammengeheftet. Aus dem Off Stimmen: Oh, das ist der, der ein ganzen Berg abgefackelt hat. Er hat zwei Jahre gesessen, jetzt ist er auf Bewährung raus.

Er, das ist Amador. Amador (Amador Arias) kehrt zurück in sein Dorf zurück, in einer Berglandschaft voller Wälder in Galizien. Er hat einen langen Weg von der Busstation zum abgelegenen Haus seiner Mutter vor sich, lehnt eine Mitfahrgelegenheit ab, er geht lieber zu Fuß im Regen die sich den Berg hinaufschlängelnde Straße entlang, am Ende querfeldein. Eine gebeugte kleine hutzelige Frau arbeitet im Gemüsegarten. Sie hebt den Kopf und sieht ihn lange an. „o que arde – Fire Will Come“ weiterlesen

Ciemno, prawie noc – Dark, Almost Night

Den ersten enttäuschenden Film des Festivals sehe ich am Nachmittag, den polnischen Ciemno, prawie noc – Dark, Almost Night von Borys Lankosz. Alicia (Magdalena Cielecka) reist in ihren Heimatort zurück, um für eine Reportage über verschwundene Kinder zu recherchieren und wird dabei von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt. Der Film beginnt mit düsteren harmonischen Bildern, ist stimmig ausgestattet, kombiniert gelungen die Szenerien von realsozialistischer Brachialarchitektur mit verwunschenen Anwesen älterer Zeiten, ist direkt auf eine seltsam-gruselige Weise spannend und besticht mit einer bemerkenswerten Sound- und Musikunterlegung, die verschiedene Szenen miteinander verknüpft und übereinander legt. Doch leider seicht Ciemno, prawie noc sehr schnell in einen viel zu vollgepackten Mystery-Thriller ab, samt ermüdender Figurenklischees etwa der rundrum positiven Heldin (tough, seelisch versehrt und sehr schön), exzessiver Gewalt gegen Kinder, Zweitemweltkriegsgrauen, verschiedensten Traumata und am Ende auch noch der unweigerlichen (?) brutalsten Kinderpornografie (das aktuelle Symbol für das absolute Böse, wie es scheint). Diese Adaptation des Bestsellers von Joanna Bator ist leider grundlegend missraten, Viele verlassen den Kinosaal während des Films und verpassen dadurch die letzte Einstellung von Heldin und gerettetem Kind am Meer im Sonnenuntergang, die den Streifen dann endgültig in niveaulosem fernsehformatigem Kitsch erstickt. Schade.

ffm19 – der dritte tag

Gespannt war ich auf Bacurau, den Kleber Mendonça Filho (Aquarius) zusammen mit Juliano Dornelles gemacht und die damit den diesjährigen Jurypreis in Cannes gewonnen haben. Kleber Mendonça war in den anschließenden Q&As nicht wie das letzte Mal dabei, dafür aber ein hochemotionaler Juliano Dornelles, der sich über das schon wieder ausverkaufte Kino und über den Kommentar einer brasilianischen Filmstudentin freute: Sie hätte einen guten Film erwartet, aber nicht wissen können, dass er einer der wichtigsten Filme in ihrer Studienzeit würde. Bacurau ist eine krude Mischung aus Western, Mystery-Thriller und Scifi, mit kleinen Splattereinlagen und unglaublich spannend. Mit der wunderbaren SÔNIA BRAGA und dem legendären UDO KIER! Aufgekratzt, euphorisch und mit einer kleinen hochgestreckten Faust im Geiste verlasse ich das Kino. Das ist d e r  Film für die heutige politisch verdrehte Zeit: Wir wehren uns!

Später am Abend dann der chinesische Historienfilm Dong Qu Dong You Lai – Winter after Winter in ruhigen und sehr langsamen Schwarzweißbildern. Vor dem Hintergrund der harten Lebensbedingungen während der japanischen Besetzung der Mandschurei entspinnt sich ein Kammerspiel zwischen dem Vater, den drei Söhnen und der Schwiegertochter: Da der älteste Sohn zeugungsunfähig ist, befielt der Vater seinen beiden anderen Söhnen, die Schwiegertochter zu schwängern, um die eigene Blutlinie fortzuführen. Die Schwiegertochter bleibt ohne Text in diesem Film, sie ist nicht stumm, vielmehr ohne Kraft und Recht auf eine eigene Stimme, als Symbol für die vollständige Unterdrückung der Frau, die laut Regisseur Jian Xing in dieser absoluten Form in China bis in die 1990er Jahre herrschte. Ein kunstvoller, durchdachter, strenger – und anstrengender – Film, eine archaische Geschichte über Angst, Unterwerfung und Aufbegehren, Tradition und Überleben.

el viaje extraordinario de celeste garcia

Celeste Garcia macht sich auf die Reise zu einem fernen Planeten. Sie ist eine etwas verhuschte ehemalige Lehrerin, die nach ihrem Ausscheiden aus dem Schuldienst am örtlichen Planetarium als Museumsaufpasserin arbeitet, jeden Tag in ihrer Uniform nach Hause trottet, wo sie die schmerzenden Füße aus den drückenden Schuhen herauszwängt und wo ihr erwachsener Sohn im Sofa herumlümmelt und Computerspiele spielt. Celeste ist ein gutmütiger Mensch und jemand, der sich in sein Schicksal fügt. Doch als sich die Gelegenheit zu dieser intergalaktischen Reise bietet, zögert sie nicht lange und ergreift ihre Chance. „el viaje extraordinario de celeste garcia“ weiterlesen

Une jeunesse dorée

Une jeunesse dorée – das ist Kino, das aus dem Vollen schöpft. Ein opulentes Bilderwerk, das beim Zusehen viel Spaß macht. Das Setting: Ende der 70er Jahre, die französische queere Discoszene, Hauptspot: der legendäre „Le Palace“, der angesagteste Club von Paris. Auch wenn die Story manchmal etwas stockt, treibt einen die Musik durch den Film. Die Figuren sind von Alkohol und Drogen aufgepuscht, drehen immer weiter auf, die Emotionen schrauben sich immer höher. Wir sind im „Le Palace“, wir sind in einem prächtigen Anwesen auf dem Land, wir sind in einer riesigen Altbauwohnung, am Pult legt ein afroamerikanischer DJ auf und tanzt, alle Figuren sind exaltiert und aufgedresst und jung und schön. „Une jeunesse dorée“ weiterlesen

ffm19 – erster tag

Mit den Filmen geht es für mich erst am Sonntag am frühen Abend los. Dieses Jahr ein schöner Auftakt mit Une jeunesse dorée, einem pulsierenden Film über Verführung, Manipulation, Liebe und Käuflichkeit, ein Porträt der Dekadenz, der Popmusik, der Mode, der queeren Szene Ende der 1970er Jahre. Eva Ionesco setzt dem legendären Pariser Club Le Palace in diesem autobiographischen Film ein opulentes Denkmal. Mit ISABELLE HUPPERT und MELVIL POUPAUD. Vielleicht kein wirklich guter Film, Huppert und Poupaud liefern hier wohl nicht ihre besten Darbietungen, aber ein Film, der aus dem Vollen greift und deswegen trotzdem Spaß macht.

Trotz des langen Tags und der extremen Hitze, die die ganze Stadt in eine dickflüssige Luft einhüllt, schaffe ich es noch in eine Spätvorstellung. Als ich im Arri ankomme, bin ich schockiert: Das alte Kino ist verkauft und zur Astor Film Lounge umgestaltet worden, ein weiteres Traditionskino ist gestorben. Ich sehe Ethan Hawkes neuen Streifen über Blaze Foley, einen Folkmusiker, der die große Karriere nie geschafft hat. Ein berührender Musik- und ein Liebesfilm, authentisch, nah an seinen knorrigen Figuren, mit wunderbarem Soundtrack.

iffr – letzter tag: doku über Ziva Postec

Mein letzter Tag auf dem Rotterdamer Filmfestival beginnt um 9.15 Uhr mit dem Dokumentarfilm Ziva Postec. La monteuse derrière le film Shoah von Catherine Hébert. Ziva Postec arbeitete sich ab 1979 sechs Jahre lang, bis zur vollständigen Erschöpfung, durch die 350 Stunden Filmmaterial, das Claude Lanzmann für den Film gedreht hatte. Abgesehen von dem schieren Umfang und des emotional extrem belastenden Inhalts der Augenzeugenberichte über den Holocaust bestand das Material ausschließlich aus Interviews, die extrem schwierig zu einem Film zu montieren waren. Ziva Postec überzeugte Lanzmann, wieder nach Polen zu fahren und die Orte der Vernichtung heute zu filmen, um Landschaften als Räume der Imagination für die Zuschauer zu schaffen. Die Montage von Shoah war ein Mammutprojekt, in das sich Ziva Postec wie in einem freiwilligen Gefängnis selbst eingeschlossen und für das sie persönlich viel geopfert hat, wie sie freimütig auch mit großer Reue im Blick auf ihre Familie einräumt. Trotzdem sagt sie, die Arbeit an diesem wichtigen Film sei der Höhepunkt ihrer Karriere gewesen. Zu dem schwierigen und egomanen Claude Lanzmann bricht der Kontakt im Anschluss an die Vollendung des Films ab und Ziva Postecs Anteil an diesem Film gerät in Vergessenheit.

serdtse mira – core of the world

Im Nirgendwo ein abgelegenes Gelände im Wald. Es werden Hunde gehalten und in Gefangenschaft aufgezogene Wildtiere. Ein älteres Ehepaar und die alleinstehende Tochter mit ihrem kleinem Sohn wohnen im großen Haus. Auf der anderen Seite des verschlammten Hofes steht eine Hütte, von einer Straßenlaterne beleuchtet. Hier haust Egor. Er ist der Tierarzt – und eine Art Knecht.

Nur wenige Szenen spielen jenseits dieses Ortes, es gibt da ein Nachbarhaus, und einen Ausflug in das Städtchen. Und die Wälder und Seen. Ansonsten ist das Setting des Films abgeschlossen. Natalia Meshchaninova hat mit Serdtse mira (Core of the World) ein Kammerspiel geschrieben, in dessen strengen Rahmen die Figur des etwa dreißigjährigen Egor (verkörpert von STEPHAN DEVONIN) genug Raum bekommt, um langsam in seiner Verstörtheit gezeigt zu werden. Da ist seine Zärtlichkeit gegenüber den Zicklein, die er mit der Flasche füttert, seine Besonnenheit in der Operation eines verletzten Tieres, seine Liebe zum versehrten Hund – und dann ein unerbittliches Eindreschen auf Menschen. Ein kurzer, in der Unmittelbarkeit umso eindringlicherer Ausbruch roher Gewalt und kondensierter Wut.

Egor ist ein Heimatloser, ein Traumwandler, der langsam in die Strukturen dieser kleinen Gemeinschaft am Ende der Welt hineinwächst, die Angebote zum Essen ohne Entschiedenheit annimmt. Und ohne es zu merken, ein Teil davon wird.

Natalya Meshchaninova gelingt eine behutsame und auch irgendwie unparteiische Zeichnung eines schwerverletzten Menschen, gefangen in Wut, eingekapselt in der Angst vor sich selbst, voller unendlicher Bedürftigkeit.