hannah

Hannah, eine ältere Frau, lebt irgendwo in einer belgischen Stadt in einer dunkel eingerichteten Mietswohnung mit ihrem Mann. Sie essen gemeinsam zu Abend, das Fernsehen läuft, später spült sie ab. Wortlose Routinen. Als sie zu Bett gehen, sagen sie „Gute Nacht“, löschen das Licht und drehen sich voneinander weg. Dann liegt sie da, mit offenen Augen. Am nächsten Morgen braucht Hannah länger im Bad, doch das Taxi wartet schon und sie muss sich beeilen. Sie fahren zusammen. Kurz vor der Ankunft gibt der Mann ihr den Ehering und die Uhr. Dann ein Gittertor und Anstaltskleidung. Als sie allein nach Hause fährt, nimmt sie die Metro.

Im weiteren Verlauf des Films sehen wir Hannah bei ihrem Putzjob in einer modernen Villa, im Schauspielkurs, da gibt es einen Besuch im Schwimmbad, und wegen eines Wasserschadens kommt der Handwerker in die Wohnung. Gesprochen wird wenig. Es ist nur Hannah und ihr Leben, in dem es niemanden mehr gibt. Den Mann besucht sie mal im Gefängnis, Sohn und Enkel sehen wir nur einmal aus der Ferne.

Die Einsamkeit der Figur ist absolut. Es gibt kein Gegenüber, dem sie etwas von sich erzählt, ihre Innenwelt findet keine hörbare Stimme. Hannah nimmt nicht mehr Teil am Leben, kann nurmehr höchstens Zuschauerin sein. Öffentliche Orte werden zum Theatrum vitae, in der Metro passieren Dinge, hier spielen sich Dramen im Leben anderer Menschen ab. Sie beobachtet still, mit verstohlenem Blick.

Der Film ist zuallererst das Porträt einer siebzigjährigen Frau. Eine ältere Frau hat durchaus einen gewissen Stil, achtet dezent auf ihr Aussehen. Ein sensibler Mensch, sie hat einen Sinn für Dinge und Pflanzen, spielt Theater. Freundlich im Umgang und loyal. Diskret und sehr beherrscht. In Zeiten von Jugendwahn, Bodyshaping und medial allgegenwärtiger Sexualität ist der Blick auf eine Siebzigjährige, auf ihren nackten Körper und ihre verletzte Seele ein Anachronismus. In ihr Gesicht und ihren Körper eingeschrieben ist das vergangene kleine Leben, in den Falten und Runzeln und erschlafftem Gewebe.

Der Film ist von einer beträchtlichen formalen Strenge: Zuallererst die Beschränkung auf die dokumentatorische Funktion und die daraus resultierende weitgehende Absenz von Sprache. Sprache dokumentiert die Kommunikation der Menschen, Regisseur Pallaoro achtet peinlich darauf, die Sprache nicht dazu zu benutzen, um dem Zuschauer die Geschichte oder das Gemütsleben der Figuren zu erklären. Statt Erklärungen abzuliefern oder die Handlung voranzutreiben, verschmelzen sprachliche Äußerungen mit der Geräuschkulisse des Films. Statt Filmmusik bildet Sprache gemeinsam mit den Alltagsgeräuschen der Stadt den Score des Films, die hallenden Schritte im Innenhof und das Knarksens des Mülltonnendeckels aus Plastik, das elektronische Surren der einfahrenden Metro in die Haltestelle, das Klappern des Geschirrs beim Abwasch, die dröhnende Stille in der Wohnung. Dann die konsequente Beschränkung auf eine Figur, es gibt keine Einstellung im Film, die nicht Hannah selbst oder ihren Blick einfangen würde. Alle anderen Figuren werden aus dem Blickwinkel Hannahs gezeigt, selten sind ihre Gesichter und Gestalten länger zu sehen. Gerahmt wird Hannah durch die sie umgebenden Räume, die Metrostation, das Wohnzimmer, der Innenhof, die Kamera fängt sie indirekt über Spiegel ein, ihr Profil vom linken Rahmen in das Bild ragend, durch die Tür ins Schlafzimmer sehen wir sie weit entfernt auf dem Bettrand sitzend. Die Kamera findet sie wieder, wenn Hannah wieder mal verloren geht.

In Hannah werden wir zu Zeugen dieser Frau und ihrem Leben sowie dem, wie in Hannah etwas passiert. Wie Hannah zermürbt wird von ihrer Einsamkeit und zugleich von dem überaus schmerzvollen Prozess, in dem sie langsam realisiert, dass ihr Ehemann das Verbrechen allen Beteuerungen zum Trotz tatsächlich begangen hat. Im Festhalten am Status quo, an der Ehe, aus althergebrachter Loyalität zu ihrem Mann war sie mit an dem Verbrechen beteiligt. Und diese allmähliche Erkenntnis vernichtet ihr Leben, zerstört, was bisher war. Einfach weitermachen, ist jetzt eben nicht mehr möglich. Eine stumme, einsame Reise in den Untergang. Und die Spannung darin steigert sich unmerklich von Minute zu Minute.

Mit minimalen, kaum wahrnehmbaren Gesten, vielen unterschiedlichen Gesichtern und einer zurückhaltenden Verzweiflung in der Mimik erzeugt Charlotte Rampling die Spannung dieses gemarterten Charakters leise und so unentrinnbar, dass auch im trotz der späten Vorstellung gut besuchten Kinosaal abgesehend von den knarcksenden Kinostühlen nichts zu hören ist. Rampling bekommt für diese Rolle den Darstellerinnenpreis in Venedig. Die Zuschauerschaft ist von dieser Spannung erfasst, es ist wie ein Thriller ohne Action. Die Handlung spielt sich im Kopf des Betrachters ab und entwickelt einen ungemeinen Sog. Ohne dass etwas Dramatisches, ja ohne dass überhaupt etwas wirklich passiert, wird die Spannung immer unerträglicher. Wie lange kann sie noch so weitermachen? Wann wird sie zusammenbrechen? Woher nimmt sie die unfassbare Kraft, ihr Leben weiterzuleben, ihre Alltagsroutinen abzuspuhlen, morgens aufzustehen, sich zu waschen?

Andrea Pallaoros Blick auf seine Figur Hannah ist durch seine Liebe und seine Zärtlichkeit unbedingt – und generiert so die Präzision seiner Betrachtung und die daraus resultierende Erbarmungslosigkeit der Darstellung. So zärtlich dieser Blick ist, so entlarvend ist er auch: Die Lebenslügen, das Unvermögen, sein eigenes Leben zu leben. Der Autor entlehnt der Zärtlichkeit seines Blicks auch das Recht, ja die Verpflichtung, sie der Wahrheit entsprechend schonungslos zu betrachten.

Wer traut sich, solch einen so zärtlichen wie entlarvenden Blick auf diese Generation von Frauen zu werfen und versteht sich noch dazu so gut darin? Hannah ist von Pallaoro als erster Film einer Trilogie über Frauen angelegt. Ich bin unglaublich gespannt auf die beiden anderen!

Hannah ist ein sehr beeindruckender Film über ein Lebensende. Über Schuld. Und über Einsamkeit.