seishin o – zero

© Laboratory X, Inc.

Die Kamera blickt in einen kleinen Raum. Am Schreibtisch in der Ecke sitzt der Psychiater, davor der Patient, ein vielleicht dreißigjähriger Mann, dessen Mutter  an der Tür stehenbleibt. Der Patient erzählt, der Psychiater nickt, schließt immer wieder länger die Augen. Es geht um Wünsche. Der Arzt schlägt vor, sich an einem Tag der Woche „auf Null zu setzen“, sich dem Erleben und Befriedigen von Begehren und Wünschen zu entziehen und lediglich zu spüren, dass man lebt. Sich auf Null setzen und versuchen, das eigene Leben zu empfinden, froh zu sein, dass man am Leben ist.

Dann bespricht Doktor Yamamoto mit dem Patienten, wie es weitergehen soll, wenn er aufhört zu praktizieren. Denn er hat mit zweiundachtzig Jahren beschlossen, sich zur Ruhe zu setzen. Man sieht ihm sein Alter durchaus an: Als er während der Erzählung des Patienten die Augen schließt, denkt man direkt, er sei eingeschlafen. In seinem Abschiedsvortrag in der Klinik speichelt er beim Sprechen. Doch seine Rede erschließt dann die Souveränität seines Geistes, seinen Humor, seine zutiefst humanistische Haltung und den Respekt, den er für die Menschen empfindet, mit denen er arbeitet, deren Leid er anerkennt und deren Anstregungen er bewundert. Es sei sehr schwer, am Leben zu bleiben, sagt er, es bedürfe ungeheurer Kraft und großen Mutes.

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Masamoto Yamamoto gehörte zu den Vorkämpfern für die Öffnung der Psychiatrie in Japan in den sechziger Jahren und hat, unterstützt von seiner Frau Yoshiko, mit großem persönlichen Einsatz sein Leben der Behandlung von psychiatrisch Erkrankten gewidmet. Seishin O (Zero) begleitet den Arzt in die letzten Therapiesitzungen, aber auch in seinen Alltag mit Yoshiko, die mittlerweile an schwerer Demenz erkrankt ist. Nach der Arbeit sitzt man im Wohnzimmer, der Fernseher läuft und der übertragene Sumokampf spiegelt sich in der zwischen Masamoto und Yoshiko stehenden Glasvitrine. Es wird ein bisschen erzählt, Yoshiko zieht aus dem Regal eine Fotographie hervor und zeigt sie Kazuhiro Soda, dem Filmemacher, der auch die Kamera führt. Nein, sie könne sich nicht mehr erinnern, wo das aufgenommen wurde. Sie kichert verlegen. Zwischendurch fragt sie, ob Soda heute in der Schule war.

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Wir bleiben den Abend bei den Yamamotos, die Kamera nimmt ruhig weiter alles auf. Wir beobachten, wie umständlich der Arzt das Abendessen zubereitet, wie schwer und mühsam der Alltag ist. Bild für Bild erschließt sich, was Alter ist, was Demenz ist, wie die beiden zusammen funktionieren, wie eng sie sind, sein müssen. Es ist ein fragil gewordenes Leben, die alltäglichen Handlungen kosten Zeit und Kraft, man sieht die Müdigkeit, die Endlichkeit in den Körpern und den Gesichtern des Ehepaares, die seit ihrer Schulzeit zusammen sind. Und die Implosion zweier  bürgerlicher selbstbestimmter Leben.

Regisseur Kazuhiro Soda und Produzentin Kiyoko Kashiwagi – „slash wife“, wie sie gutgelaunt hinzufügt – erklären vor dem Screening, dass der Film im Grunde ein Sequel zu Seishin (Mental) von 2008 sei, in dem es um die Patienten von Dr. Yamamoto ging. Sie stellen ihr Konzept von Dokumentarfilm als observational films vor. Seishin O (Zero) ist observational film #9. Dabei halten sie sich an zehn Grundregeln, die sie kichernd die „ten commandments“ nennen – dazu gehörten beispielsweise „no research“, „no script“, „shoot as long as possible“, „cover small areas deeply / one place carefully“, „no narration music“, „use long takes“, „pay for your production yourself“. Außerdem gäbe es auch Elemente, die in den Filmen immer wieder auftauchen würden, beispielsweise Katzen. Die beiden unglaublich sympatischen Filmeleute entlassen uns die Zuschauer lachend in den Film, wünschen Mut und Durchhaltevermögen („Please be patient and relax! Relax!“) und sind gespannt, wie viele am Ende noch da sind.

Am Ende bin ich angerührt noch da, und habe auch Bilder aus der Stadt gesehen, Kinder auf dem Heimweg von der Schule, Radfahrer im Verkehr und die ziemlich hässliche dreckig-braun-rot gefleckte Katze, mit Stummelschwanz, X-Beinen und dicklichem Bauch, die auf ihrem schwerfälligen Gang zwischen den parkenden Autos der Kamera hinterblickt.