소년들 – The Boys

Morgens sehe ich 소년들 – The Boys, einen prominent besetzten Krimi des südkoreanischen Regisseurs Chung Ji-young, der für seine Thriller und kritischen Filme gegen Folter und Korruption auch international bekannt ist. Der Saal ist voll, damit habe ich um halb zehn Uhr morgens nicht gerechnet. Auch nicht erwartet habe ich, dass in diesem Film ein Krimi mit sozialem Realismus und einer human-touch-Story krude miteinander vermischt – und dass mir der Film dann trotzdem gefallen würde. „소년들 – The Boys“ weiterlesen

Moc – Power

Sehe abends die Weltpremiere von Moc – Power, den zweiten Film von Mátyás Prikler, einen Politthriller über den slowakischen Geheimdienst, der vertuschen soll, dass ein hochrangiger Minister auf einer Jagd aus Versehen einen unschuldigen Jungen erschossen hat. Im Mittelpunkt steht der Geheimdienstagent Steiner (Szabolcz Hajdu), der den Vorfall untersucht und damit beauftragt wird, einen passenden Sündenbock für den Mord zu finden und gefügig zu machen. Die Figur von Steiner wird mit einer unheilbaren Krankheit im finalen Stadium ausgestattet, und so mit der nötigen Abgefucktheit, um den Job ohne größere Skrupel zu erledigen und daraus qua kleiner Erpressung eigenen Profit zu schlagen, die Frau samt Sohn und ungeborenem Kind zu Gute kommen sollen. Er ist es auch, der den Minister Berger davon überzeugt, die Verantwortung für diesen Unfall abzuwälzen, um weiter für das höhere Gut kämpfen zu können, nämlich das, was er in der Politik erreichen kann. „Moc – Power“ weiterlesen

Tigru – Day of the Tiger

Im Mittelpunkt des leicht schwermütigen rumänischen Tigru – Day of the Tiger steht die Tierärztin Vera (wunderbar: Cătălina Moga, fand ich schon in Sieranevada toll), die vor Kurzem ihr Neugeborenes verloren hat und von ihrem Mann betrogen wird, eine toughe Frau, die sich jedes Selbstmitleid versagt und statt dessen nachts gerne im Zoo herumtreibt, wo sie sich wohlfühlt bei den Tieren und in den Gehegen. Es ist der Zoo, der ein Tigerweibchen aufgenommen hat, um das sie sich kümmert und das am nächsten Tag ausgebüchst ist. Die Großwildjagd im angrenzenden Wald beginnt! „Tigru – Day of the Tiger“ weiterlesen

iffr2023 – der dritte Tag

Mein dritter Tag in Rotterdam. Nach der gestrigen Pleite schaue ich am Nachmittag drei Filme unmittelbar nacheinander und muss mich ein bisschen beeilen, um zwischen den beiden Kinos hin und her zulaufen. Ich beginne mit Tigru – Day of the Tiger und: Meine Wertschätzung für den rumänischen Film wird nicht enttäuscht.

Etwas ratlos bin ich hingegen mit dem in der Kritik bisher hochgelobten Saint Omer von Alice Diop, einem wunderschön fotografierten und karg inszenierten Film, der von einem Gerichtsprozess um eine senegalesische Frau erzählt, die ihr Baby umgebracht hat, ihre Tat nicht, wohl aber ihre Schuld leugnet. Es geht um intergenerationale Traumavererbung, um kolonial gesteuerte Blicke und Verurteilungen, um Mutterschaft – spannende Themen, ich bleibe aber nachhaltig irritiert von der unangemessen emotionalisierenden Machart.

Schließlich geht es auf die Weltpremiere des slowakischen Politthrillers Moc – Power, die Crew ist abgesehen von Regisseur Mátyás Prikler anwesend. Es ist erst neun, als ich an diesem Tag mit Filmschauen fertig bin. Ich setze mich ins sehr laute, dafür aber angenehm leicht überheizte Theatercafé und schreibe, bis mir die Augen zufallen.

seishin o – zero

© Laboratory X, Inc.

Die Kamera blickt in einen kleinen Raum. Am Schreibtisch in der Ecke sitzt der Psychiater, davor der Patient, ein vielleicht dreißigjähriger Mann, dessen Mutter  an der Tür stehenbleibt. Der Patient erzählt, der Psychiater nickt, schließt immer wieder länger die Augen. Es geht um Wünsche. Der Arzt schlägt vor, sich an einem Tag der Woche „auf Null zu setzen“, sich dem Erleben und Befriedigen von Begehren und Wünschen zu entziehen und lediglich zu spüren, dass man lebt. Sich auf Null setzen und versuchen, das eigene Leben zu empfinden, froh zu sein, dass man am Leben ist. „seishin o – zero“ weiterlesen

si c’était de l’amour

Film kann so viel mehr sein als einfach ’nur‘ Spiel- oder Dokumentarfilm. Das ist das erste, was mir nach wenigen Minuten von Si c’était de l’amour in den Sinn kommt. Das, was da auf der Leinwand zu sehen ist, ist keine reine Dokumentation der Rave-Tanzperformance „Crowd“ von Gisèle Viennes; vielmehr setzt sich Patric Chiha mit filmischen Mitteln mit Tanz, den Tänzerinnen und Tänzern, mit den darstellten und dahinterliegenden Stories des Stücks, mit der Choreographie und der eigentlichen Show auseinander.

Die Handlung der Performance: ein Rave in den 1990ern, es wird getanzt, Techno, in slow motion. Allein, paarweise, in Gruppen, einander zu- und abgewandt. Ein äußerst komplexes soziales Gefüge und Verhalten. Den Tanz sehen wir in der Szenerie der abschließenden „Show“, die Darstellerinnen und Darsteller in Kostümen, es gibt ein Szenenbild mit Matsche auf dem Boden, die dröhnende Musik. „si c’était de l’amour“ weiterlesen

Miles Davis: Birth of the Cool

In der (ausverkauften) Spätvorstellung dann als Bonbon Miles Davis: Birth of the Cool des Amerikaners Stanley Nelson. Ein chronologisch erzählter Dokumentarfilm, der durch sein reiches Bildmaterial beeindruckt, aber vielleicht etwas konventionell erzählt und teilweise zu schnell geschnitten ist. Neben dem widersprüchlichen Charakter und dem enormen Erneuerungswillen sowohl im Jazz als auch des eigenen Selbst geht es auch um die Rolle von Miles Davis als (Vor)Bild und die Identifikationsfigur, die er als stolze, elegante und selbstbewusste öffentliche Persönlichkeit für die afroamerikanische Kultur und Community gespielt hat.

o que arde – Fire Will Come

O que arde – Das Feuer wird kommen beginnt mit einer Akte, die von Hand zu Hand gereicht wird: Da drückt jemand den Stempel aufs Papier, eine dicker Stapel wird zusammengeheftet. Aus dem Off Stimmen: Oh, das ist der, der ein ganzen Berg abgefackelt hat. Er hat zwei Jahre gesessen, jetzt ist er auf Bewährung raus.

Er, das ist Amador. Amador (Amador Arias) kehrt zurück in sein Dorf zurück, in einer Berglandschaft voller Wälder in Galizien. Er hat einen langen Weg von der Busstation zum abgelegenen Haus seiner Mutter vor sich, lehnt eine Mitfahrgelegenheit ab, er geht lieber zu Fuß im Regen die sich den Berg hinaufschlängelnde Straße entlang, am Ende querfeldein. Eine gebeugte kleine hutzelige Frau arbeitet im Gemüsegarten. Sie hebt den Kopf und sieht ihn lange an. „o que arde – Fire Will Come“ weiterlesen

Ciemno, prawie noc – Dark, Almost Night

Den ersten enttäuschenden Film des Festivals sehe ich am Nachmittag, den polnischen Ciemno, prawie noc – Dark, Almost Night von Borys Lankosz. Alicia (Magdalena Cielecka) reist in ihren Heimatort zurück, um für eine Reportage über verschwundene Kinder zu recherchieren und wird dabei von ihrer eigenen Vergangenheit eingeholt. Der Film beginnt mit düsteren harmonischen Bildern, ist stimmig ausgestattet, kombiniert gelungen die Szenerien von realsozialistischer Brachialarchitektur mit verwunschenen Anwesen älterer Zeiten, ist direkt auf eine seltsam-gruselige Weise spannend und besticht mit einer bemerkenswerten Sound- und Musikunterlegung, die verschiedene Szenen miteinander verknüpft und übereinander legt. Doch leider seicht Ciemno, prawie noc sehr schnell in einen viel zu vollgepackten Mystery-Thriller ab, samt ermüdender Figurenklischees etwa der rundrum positiven Heldin (tough, seelisch versehrt und sehr schön), exzessiver Gewalt gegen Kinder, Zweitemweltkriegsgrauen, verschiedensten Traumata und am Ende auch noch der unweigerlichen (?) brutalsten Kinderpornografie (das aktuelle Symbol für das absolute Böse, wie es scheint). Diese Adaptation des Bestsellers von Joanna Bator ist leider grundlegend missraten, Viele verlassen den Kinosaal während des Films und verpassen dadurch die letzte Einstellung von Heldin und gerettetem Kind am Meer im Sonnenuntergang, die den Streifen dann endgültig in niveaulosem fernsehformatigem Kitsch erstickt. Schade.

ffm19 – der dritte tag

Gespannt war ich auf Bacurau, den Kleber Mendonça Filho (Aquarius) zusammen mit Juliano Dornelles gemacht und die damit den diesjährigen Jurypreis in Cannes gewonnen haben. Kleber Mendonça war in den anschließenden Q&As nicht wie das letzte Mal dabei, dafür aber ein hochemotionaler Juliano Dornelles, der sich über das schon wieder ausverkaufte Kino und über den Kommentar einer brasilianischen Filmstudentin freute: Sie hätte einen guten Film erwartet, aber nicht wissen können, dass er einer der wichtigsten Filme in ihrer Studienzeit würde. Bacurau ist eine krude Mischung aus Western, Mystery-Thriller und Scifi, mit kleinen Splattereinlagen und unglaublich spannend. Mit der wunderbaren SÔNIA BRAGA und dem legendären UDO KIER! Aufgekratzt, euphorisch und mit einer kleinen hochgestreckten Faust im Geiste verlasse ich das Kino. Das ist d e r  Film für die heutige politisch verdrehte Zeit: Wir wehren uns!

Später am Abend dann der chinesische Historienfilm Dong Qu Dong You Lai – Winter after Winter in ruhigen und sehr langsamen Schwarzweißbildern. Vor dem Hintergrund der harten Lebensbedingungen während der japanischen Besetzung der Mandschurei entspinnt sich ein Kammerspiel zwischen dem Vater, den drei Söhnen und der Schwiegertochter: Da der älteste Sohn zeugungsunfähig ist, befielt der Vater seinen beiden anderen Söhnen, die Schwiegertochter zu schwängern, um die eigene Blutlinie fortzuführen. Die Schwiegertochter bleibt ohne Text in diesem Film, sie ist nicht stumm, vielmehr ohne Kraft und Recht auf eine eigene Stimme, als Symbol für die vollständige Unterdrückung der Frau, die laut Regisseur Jian Xing in dieser absoluten Form in China bis in die 1990er Jahre herrschte. Ein kunstvoller, durchdachter, strenger – und anstrengender – Film, eine archaische Geschichte über Angst, Unterwerfung und Aufbegehren, Tradition und Überleben.