Nakhodka – The Find

Find.szn3Trofim Rusanow ist ein echter Scheißkerl. Mit seiner Frau spricht er nicht, seine Tochter hat er verstoßen, weil sie jemanden geheiratet hat, ohne ihn um Erlaubnis zu fragen, und er frisst wie ein Schwein. Mit seiner Selbstgerechtigkeit, seinem Rigorismus und seiner Rechthaberei terrorisiert er nicht nur seine Familie, sondern als Inspektor der Fischereibehörde an einem der vielen riesigen Seen in der russigen Taiga auch die Fischer, die er unbarmherzig wegen jedem Bagatellvergehen verfolgt und bei der Obrigkeit meldet. „Nakhodka – The Find“ weiterlesen

erste zwischenbilanz

plakat_miniMit zwei brasilianischen Filmen ging das Filmfest für mich politisch los: Neben O Prefeito nahm auch Aquarius Machtgier, Korruption, Vetternwirtschaft und diplakate Folgen der Großprojekte in der Stadtplanung, Ausverkauf der Städte in den Blick. Eine ältere Frau beharrt auf ihrem Recht und bleibt in ihrer Eigentumswohnung wohnen, womit sie einen finanziell lukrativen Abriss und den Neubau einer Siedlung namens Aquarius verhindert. Die Mittel, die das Unternehmen anwendet, um ihren Widerstand zu brechen, enthüllt seine brachiale Rücksichtslosigkeit. Ein langer langsamer Film von Kleber Mendonça Filho mit einer tollen widerborstigen Protagonistin, mit der großartigen Sônia Braga in der Hauptrolle.

CMPoster2Closet Monster fährt mit sprechenden Hamstern und magischen Elementen auf und erzählt zwar etwas arg konventionell, aber genau beobachtet eine eigentlich ganz reizende schwule Coming-of-Age-Geschichte – hätte der Regisseur auf das allzu kitschige Ende verzichtet, hätte mir der Film gefallen. Gestern machte außerdem der the find_plakatmenschenfeindliche Trofim auf einem lebensgefährlichen Fußmarsch durch die russische Taiga den Fund (Nakhodka – The Find) eines ausgesetzten Babys, das er vergeblich zu retten versucht. Die Figuren erwartungsgemäß wortkarg, die Landschaft schön fotografiert. Während der Suche nach der Mutter des Kindes macht der Charakter von Trofim dann eine grundlegende Wandlung durch, die der russische Film dem Zuschauer bedauerlicherweise in keinster Weise plausibel machen kann. Der offensichtliche Wunsch nach Erlösung durch Happy End hat beiden Filme ihren möglichen Zauber genommen. Wie schade.

Erste Bilanz: Ganz nett, der große Knaller war allerdings noch nicht dabei.

O Prefeito

plakat_miniEin Stein. Dazu Rauschen. In der langen Einstellung gibt es keinerlei Bewegung, es könnte sich auch um eine schwarzweiße Fotografie handeln. Dann der nächste Stein. Sind wir am Meer? Hören wir das dröhnende Rauschen der Brandung? Ein weiteres Bild eines Steins, diesmal bemerken wir den Schutt. Jetzt ein Stein im Schutt mit einem Stückchen nackten Stahlträgers. Also kein Meer, keine Brandung, kein Strand, sondern Baustelle und Baulärm. Das Rio de Janeiro von heute. „O Prefeito“ weiterlesen

projekt a

projekta_24.7.2015: Projekt A, das steht für Projekt Anarchie, Menschen und Gemeinschaften, die in der Tradition des Anarchismus gegen die Ungerechtigkeiten und das Leid protestieren, die der kapitalistischen Gesellschaftsordnung entspringen, und versuchen, Alternativen zu finden und zu leben. In dem Dokumentarfilm besuchen wir das alternative Stadtviertel Exarchia in Athen, Anarchosyndikalisten in Barcelona, begleiten Gleisbesetzer nach Gorleben und sitzen in einer Plenumssitzung des Münchner Kartoffelkombinats. Das hat nicht immer notwendigerweise etwas mit Anarchie zu tun, der Film hätte statt Projekt A(narchie) wohl besser Projekt A(lternative) geheißen. Und leider geben Moritz Springer und Marcel Seehuber nur einen (vor allem etwas willkürlich geratenen und) winzigen Einblick in die weite Welt der vielen verschiedenartigen alternativen Projekte, in denen Menschen zur Zeit sich und ihr Leben jenseits der Mehrheitsgesellschaft zu organisieren versuchen.projekta_1 Die Filmemacher hätten besser daran getan, umfassender zu recherchieren sowie dichter, analytischer und genauer zu erzählen. Ein gut gemeinter, engagierter, aber bedauerlicherweise nicht besonders gut gemachter Dokumentarfilm über die Frage, welche Lebensalternativen es uns in der heutigen kapitalistischen Gesellschaftsordnung bleiben. Beim Münchner Publikum kam Projekt A hingegen gut an und wurde sogar mit dem Publikumspreis des Münchner Filmfestes belohnt. Sei‘s drum.

Louder than Bombs

louder_filmplakat3.7.2015: Leise und unter wohltuendem Verzicht auf jedwedes Pathos erzählt Joachim Trier in Louder than Bombs die Geschichte einer Familie, die sich nach dem Suizid der Mutter am Rande des Zerbrechens befindet. Jeder hat seine eigene Story: Jonah, ein verunsicherter und zwanghafter junger Mann (hervorragend zart nervtötend-nerdig gespielt von Jesse Eisenberg), flieht vor Frau und Baby in seine alte Familie, in das
„Louder than Bombs“ weiterlesen

Dukhtar

dukhtar_plakat2.7.2015 Am frühen Nachmittag im Kino Münchner Freiheit Dukhtar / Daughter. Die Filmemacherin Afia Nathaniel, gebürtige Pakistanin, die sich längere Zeit in verschiedenen internationalen Frauenprojekten engagiert hatte, war nicht anwesend, schickte aber eine Grußbotschaft auf Video und ließ darin keine Zweifel an der Zielsetzung ihres Films, den sie auch geschrieben, produziert und geschnitten hatte. Das Screening ihres Films auf dem Filmfest München widmete Nathaniel der pakistanischen Frauenrechtlerin Sabeen Mahmud, die vor kurzem ihr Engagement mit dem Leben bezahlt hat, und wünschte sich, dass die Zuschauer im Gedenken an Sabeen Mahmud und an die schwierige Situation von Frauen in Ländern wie Pakistan nach Hause gingen. Die junge Regisseurin (Jg. 1974) war dabei so engagiert und pathetisch, dass es einem fast Tränen in die Augen trieb. Ob das ein guter Einstieg zum Film war, sei dahingestellt.

Zwei Mädchen spielen auf einem Häuserdach in einem pakistanischen Dorf und plappern unbeschwert miteinander. Im Hintergrund ragen schneebedeckte Berggipfel in den Himmel.
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The Dark Horse

1.7.2015: Ach, war das schön, etwas fürs Herz! Das muss schließlich auch mal sein … The Dark Horse ist die neuseeländische Variante des protoamerikanischen kaputter-Trainer-bringt-Loosermannschaft-zum-Sieg-Sportfilms. Hier aber Schach statt Baseball, eine schwere psychische Erkrankung statt der üblichen Sauferei als Handicap des Trainers und neuseeländische Maori-Tristesse statt amerikanischem white trash. Die für dieses Genre oftmals unvermeidliche wahre Geschichte lautet hier: Irres Schachgenie bringt unterprivilegierten Kids in sechs Wochen das Spielen bei und schickt sie auf die Jugendmeisterschaft nach Auckland. darkhorse2Dieses Genie war der neuseeländische Blitzschachspieler Genesis Potini (1963–2011), genannt Gen, der in seiner psychischen Labilität mit seinem seltsamen Fokuhila-Haarschnitt und seinen fehlenden Vorderzähnen im Film auch äußerlich ziemlich überzeugend wie ein Irrer daherkommt. Ein sozialer Underdog im Körper eines Ringers.
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Poet on a Business Trip

poet_shu30.6.2015. Shu, ein junger Dichter aus Shanghai, fährt mit Zug, Bus, per Anhalter und mit dem Taxi von Peking in die 4000 Kilometer entfernte Uiguren-Provinz Xinjiang. Schwarzweiß und auf Video gefilmt, assoziativ begleitet von 16 Gedichten des Dichters, die auf Mandarin und Englisch, mal von Shu selbst vorgelesen, mal lediglich über Ton und Bild geblendet werden. Gedreht wurde der Film im Jahre 2002, das Team bestand nur aus Ju Anqi, Regie und Kamera, und Shu, Dichter und Hauptdarsteller. Das Duo war vierzig Tage unterwegs, ohne Skript, ohne wirkliche Drehgenehmigung. Der Film wird zum intimen Reisetagebuch des Dichters, zum Porträt der chinesischen Provinz im Jahre 2002 und zugleich eine innere Reise in die iugurische Heimat des Regisseurs. poetBillige Absteigen, im Uigurenland Jurten, Begegnungen mit Lastwagenfahrern, immer wieder Aufnahmen der verschiedenen Busfahrer und der verwackelte Blick auf die endlose Straße vor uns, Gesang in kleinen Zimmern, die Prostituierten. Einhundert Minuten staubige Pisten, Meer, Wüste und Gebirge.
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Brüggemanns Heil!

30.6.2015. Wir befinden uns in Prittwitz (neue Bundesländer), unsere Neonazis, das ist eine „Kameradschaft“ der Deutschnationalen Partei, das Trio aus einem eitlen Anführer, einem hirnfreien Schläger und dem Dicken, der sich immer zurückgesetzt fühlt. heilUnd schon geht es los: Angestachelt von seiner Angebetenen (Anna Brüggemann als prollige Nazibraut Doreen) beschließt der Anführer Sven (Benno Führmann, sorry: Fürmann, kann der herrlich hohl mit seinen großen blauen Augen schauen!) Polen zu überfallen. Das heißt vielmehr, heimlich in Polen einzumarschieren, von der anderen Seite aus als Polen getarnt Deutschland zu beschießen und so die Deutschen zu seiner Invasion Polens zu provozieren. Die sind nämlich nicht aufm Kopp gefallen. Hm, genau.

Selbstredend werden alle Drei als V-Männer von gemütlichen Verfassungsschutzonkeln geführt und mit Hundertern gefüttert.
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‚Pasolini‘ und ‚The Golden Era‘

29.6.2015. Mir scheint, als seien die Filmfestbesucher überall in der Stadt. Auf dem Rad möllere ich fast einen älteren, stark übergewichtigen Mann um, der sich, für mich uneinsehbar, hinter der Ecke Schritt für Schritt die Straße entlang müht – trägt eine Filmfesttasche um den verschwitzten Hals! Im Café reden neben mir zwei mittelalte hippe graubebartete Typen wichtig über – die Andy Warhol-Retrospektive! Überall starrt mich die komische Brille des nicht besonders gelungenen Filmfestplakats an… Vielleicht ist ja heute mein Ermüdungstag, wie der dritte Tag beim Skifahren, wer weiß?

thegoldeneraDabei habe ich das FFM bislang eigentlich sehr genossen. Gestern war es wieder so wunderbar! Mein 178-minütiger chinesischer Angstfilm The Golden Era entpuppte sich als epische Erzählung über das Leben der chinesischen Schriftstellerin Xiao Hong in wirren Zeiten, abgesehen von den vielen chinesischen Namen und den mir völlig unbekannten historischen Ereignissen rund um den chinesischen Bürgerkrieg und der japanischen Invasion in den 30er Jahren, bei denen ich nicht ganz mitgekommen bin, ein richtiges Kinovergnügen, vor allem auf der riesigen Leinwand im Filmtheater Sendlinger Tor!

Wegen des gruseligen Programms verschlägt es mich sonst nur sehr selten in dieses letzte große alte Kino in München, mit Loge und Balkonen und wie es sich gehört, alles in rotem Plüsch. Dass man sich hier wie in den spießigen 50er Jahren fühlt, dafür sorgt dann auch die Kinobetreiberfamilie Fritz Preßmars, die Mutti verkauft mir an der Bar einen Filterkaffee, den mir vor den drei Stunden noch dringend einverleiben muss, und ein bulliger unangenehmer Mann – war es Preßmar selbst ? – verscheucht mich mit groben Drohgebärden, als ich es mir gerade mit Kaffee und Zigarettchen auf der Stufe vor dem Kino gemütlich machen möchte… Wie mir das nur einfallen konnte, wie ein Penner… Ach so: Nach dem Film das übliche ewige Warten auf der Damentoilette, ich bin eine der letzten. Ich hänge gerade über der Schüssel, da gellt eine weibliche Stimme: „Jetzt aber ein bisschen Beeilung, die Damen! Sehn se zu, dass Sie endlich fertig werden!“

Während des Filmfestes ist das Publikum internationaler als sonst. In The Golden Era sitze ich mit einer ganzen Menge asiatischer Frauen im Saal, im Pasolini am Samstag in der Spätvorstellung waren viele Italiener und Franzosen im Publikum. Schön! Allerdings – und da bleibt München eben anscheinend doch München, egal wie international es beim Filmfest auch daher kommt – ins Gespräch kam ich bislang trotzdem mit niemandem … Dabei hätte ich vor allem für meine Ratlosigkeit, was den Pasolini angelangt, tatsächlich Redebedarf…

pasoliniDer Kontrast zwischen den biographischen Filmen Pasolini und The Golden Era könnte nicht größer sein, hier ein Tag, dort das ganze Leben, hier radikale Innensicht, dort Zeugnisse von Weggefährten, hier stehen das Werk und die politischen Ansichten im Mittelpunkt, dort die Persönlichkeit und der Lebenslauf, hier die große intellektuelle Geste von Abel Ferrara, dort die sympathisierende und zurückhaltende Präsentation durch Ann Hui.

thegoldenera2Im Unterschied zum Pasolini fahre ich jedenfalls nach The Golden Era sehr beschwingt durch die Abendsonne nach Hause. Obwohl die kurze Lebensgeschichte der Xiao Hong alles andere als glücklich war, hat der Film von Ann Hui auf mich eine erhebende Wirkung: Dass sich ein solch fragiler Mensch in einer derart von Konventionen geprägten Zeit seine innere Freiheit bewahren konnte! Beeindruckend.

Den Pasolini habe ich wohl einfach nicht verstanden, ich weiß viel zu wenig über den italienischen Regisseur und habe – wenn ich mich richtig entsinne – nur Accattone gesehen (und war schwer beeindruckt – aber auch etwas sprachlos angesichts der Schroffheit des Films). Natürlich war Willem Dafoe toll, aber der ganze Film kam für meinen Geschmack etwas anmaßend daher, tat so, als könne er in seine Person hineinsehen, zugleich bleibt alles etwas enigmatisch. Filmausschnitte aus Salò wechseln mit einer vorgelesenen Erzählung, die Pasolinis nächstes Filmskript zu sein vorgibt (oder tatsächlich war?), die Abel Ferrara dann mit fiktiven Pasolini-Film-Bildern illustriert. Pasolini als politischer Mensch, kompromisslos in seiner kritischen Haltung – nahm er mit seiner radikalen Bildungs- und Kapitalismuskritik nicht sogar heutige Problematiken vorweg? Wesentlich mehr erfahre ich über Pasolini nicht. Am Schluss des Filmes über den letzten Tag in Pasolinis Leben wird er dann bei einem nächtlichen sexuellen Stelldichein am Strand von Jugendlichen zu Tode geprügelt und mit dem eigenen Auto überfahren. Wirklich schlimm, wusste ich aber schon vorher. Ach ja: Mit dem Zusammenbruch der Mutter am nächsten Tag als Reaktion auf die Ermordung ihres Sohnes presst uns Ferrara dann schließlich noch etwas Rührung ab. Kann mir mal jemand die Relevanz dieser Szene erklären? Aber wie gesagt, ich habe den Film sicherlich nicht richtig verstanden.