Ein Stein. Dazu Rauschen. In der langen Einstellung gibt es keinerlei Bewegung, es könnte sich auch um eine schwarzweiße Fotografie handeln. Dann der nächste Stein. Sind wir am Meer? Hören wir das dröhnende Rauschen der Brandung? Ein weiteres Bild eines Steins, diesmal bemerken wir den Schutt. Jetzt ein Stein im Schutt mit einem Stückchen nackten Stahlträgers. Also kein Meer, keine Brandung, kein Strand, sondern Baustelle und Baulärm. Das Rio de Janeiro von heute.
So beginn der Film O Prefeito (der Bürgermeister), ein surreales Gleichnis auf Korruption und Machtgier im heutigen Brasilien, eine Kollage aus grotesken Szenen, zu Fotografien erstarrten Momentaufnahmen und stereotypisierten Figuren: der befrackte Bürgermeister, der katzbuckelnde Lakai, die irrende Seele in weiß, der zerlumpte Obdachlose.
Schauplatz Büro des Bürgermeisters, ein Schreibtisch auf einer der zigtausenden Baustellen der Stadt, inmitten von Lärm, Schutt und Staub. Im Hintergrund wird gerade ein Viadukt abgerissen. Der Film sei auch ein Porträt seiner Stadt, erklärt Bruno Safadi im Anschluss an die Vorführung, einer Stadt, die seit der Weltmeisterschaft und vor Olympia mittels der entsprechenden Finanzspritzen unter den Großprojekten der Stadtoberen und internationalen Investoren irrwitzige bauliche Veränderungen erleidet. Safadi drehte den Film 2014 in gerade mal einer Woche – vor Ort im Dreck und Schutt. Damals konnte er nicht ahnen, dass seine Parabel auf Machtversessenheit zwei Jahre später angesichts der katastrophalen Lage kurz vor den Spielen als filmisches Essai zur aktuellen Situation interpretiert werden würde.
Der vor Ehrgeiz geifernde und von seinen Pillen zerfressene Bürgermeister hat einen Plan: Mit Unterstützung der wichtigsten politischen und ökonomischen Player wie Fernsehen und Präsidentin will er einen von Brasilien unabhängigen Staat Rio de Janeiro gründen. Um historische Vorbilder ist der Bürgermeister bei diesem Vorhaben nicht verlegen, auf seinem Schreibtisch sehen wir das Porträt von Pereira Passos, der als Bürgermeister Rio de Janeiro zu Anfang des 20. Jahrhunderts einer städtebaulichen Radikalkur nach Pariser Vorbild unterzog. Und neben Passos steht die Fotografie von Getúlio Vargas, jenem Politiker, der Brasilien in den 1930er Jahren zunächst den Estado Nuovo bescherte und später das Land als paternatistischer Präsident mit eiserner Hand führte. In einer Szene blättert der Bürgermeister in den Plänen einer niemals gebauten, riesigen Stadtpräfektur. Megalomanie gestern wie heute.
In einer parallelen Geschichte schleppt sich ein verwahrloster Mann in zerrissenem und verdrecktem T-Shirt durch die nächtliche Stadt, mit ihm darf der Zuschauer auch an den Strand, in Bars und Cafés, und das eine oder andere historische Gebäude sehen. In einem Müllbeutel trägt er seine Habseligkeiten mit sich, eine Polaroid-Kamera und ein Heftchen, in das er seine Notizen einträgt. Gespielt wird er wie der Bürgermeister von Nizo Netto – es bleibt einem also selbst überlassen zu entscheiden, wer von beiden Figuren sich da nicht vielleicht etwas erträumt.
Dem Bürgermeister erscheint bald eine nicht zur Ruhe kommende Seele in Gestalt einer schönen Dame im prächtigen weißen Hochzeitskleid (Djin Sganzerla). Die weiße Dame hebt sich scharf ab von seiner Welt, da räkeln sich Reinheit und Schönheit als Gegenpole zu Dreck und Korruption auf seinem Sofa in seinem Büro auf der Baustelle. Obwohl er sich vor der weißen Dame fürchtet und sie nicht zu berühren wagt, wird sie schnell zu seiner Muse, ohne die er nicht mehr leben kann.
Doch bei näherem Hinsehen ist sogar die lange Steppe des Gewands der weißen Dame am Ende schon etwas ausgefranst und dreckig. Und sind die wichtigsten Wirtschafts- und Politikplayer erstmal erfolgreich bestochen und das Vorhaben des Bürgermeisters des unabhängigen Staats Rio de Janeiro realisiert, ist auch die weiße Dame weg. Schlagartig funktioniert der Antrieb aus Drogen und Gier nicht mehr. Zunehmend erstickt der Bürgermeister an seiner Einsamkeit und Sehnsucht, bis er sich flüssigen Beton über den Kopf schüttet und in einer letzten zur Plastik geronnenen grotesken Pose erstarrt. Das erträumte Monument für die Nachwelt. In Beton. Auf einer Baustelle. Irgendwo in Rio. Ende des Films.
Ende des Film – Ende des Lärms der Presslufthammer, der einstürzenden Gebäude, der Baustellenlastwägen. Im Zuschauer breitet sich geradezu körperliche Erleichterung und Befreiung aus. Im Saal wohltuende Stille.