Ich sehe den isländischen Last and First Men, einen in bester Hinsicht strengen Film. Es gibt Bild – schwarz-weiß- Aufnahmen von brutalistischer Kriegsdenkmalarchitektur im ehemaligen Jugoslawien –, es gibt Ton – die sphärische Musik des isländischen Komponisten Jóhann Jóhannsson, der auch Regie geführt hat – und es gibt Text – die Stimme Tilda Swindons liest aus dem dystopischen Science fiction-Klassiker von Olaf Stapledon. Das wars. Alles weitere findet im Kopf des Zuschauers statt. Einfach wunderbar.
Am Abend gehe ich in die Woche der Kritik. Das Konzept: Ein Kurzfilm, dann ein langes Format. Im Anschluss diskutieren zwei Kritiker über die Filme. „The point ist to remove the films from authorship.“ Zunächst also Cães que ladram aos pássaros – Dogs barking at birds der jungen Portugiesin (Jahrgang 1992) und aus dem Dokumentarfilm stammenden Leonor Teles. Lief auf der Mostra in Venedig und war Finalist um den European Film Award in der Kategorie Kurzfilm. Mit dem jungen schönen Vicente Gil (er selbst) streife ich zwanzig Minuten durch sein Leben in Lissabon einschließlich Nachtleben, Strand, prekären Lebensverhältnissen und Gentifizierung. Vergeblich warte ich auf einen besonderen Moment oder einen eigenen Zauber, sodass am Ende das dokumentarische Moment über einen durchschnittlichen – vielleicht sogar ein bisschen banalen – jungen Menschen in einer europäischen Großstadt überwiegt.
Im Anschluss Pansori Boxer – My punch-drunk boxer, eine trashig-bonbonfarbene Martial Arts-Verarsche, die ihre Längen hat, nicht ganz genrefest ist und in der für meinen Geschmack entschieden zu wenig gekämpft wird. Doch am Ende geht mir der zwischenzeitlich leichthändige Erstling des Südkoreaners Jung Hyuk-ki noch richtig ans Herz.







Eine der ersten Einstellungen im Profil, mit der Kippe im Mund, der Blick konzentriert nach vorn auf die Straße gerichtet, den Ellbogen lässig am offenen Fenster, der Wind streicht ihr durchs Haar. Fabiana: Transgender, Lesbe. Truckdriver. Was für eine mutige, coole und freie Frau!
In den 89 Minuten des Films begleiten wir Fabiana zusammen mit der Regisseurin auf ihrer letzten großen Fahrt quer durch Brasilien, bevor sie sich nach dreißig Jahren on the road in den Ruhestand verabschiedet. Zusammengeschnitten aus 80 Stunden Material von Fabiana plus 20 Stunden Landschaftsaufnahmen, aufgenommen auf elf Tausend Kilometern Strecke durch Brasilien in 20 Tagen. Brunna Laboissière begegnete Fabiana zufällig, als sie per Anhalter zu ihren Eltern fuhr. Laboissière sagt vor dem Film, es gehe ihr selbst oft mehr um die Reise als um das Ankommen. Sie fährt zuerst beim Trampen einen ganzen Tag mit ihr, sie reden und reden, am Ende tauschen sie Telefonnummern aus. Die Idee eines dokumentarischen Porträts entsteht.
Zweiter Tag auf dem Internationalen Filmfestival Rotterdam: Los geht es morgens um halb elf mit What You Gonna Do When The World’s On Fire? von Roberto Minervini über das schwierige Leben von Afroamerikanern im alltäglichen Rassismus im Süden der USA. Emotionales dokumentarisches Black Cinema, nah an den starken Figuren, mitreißend, politisch. Die Schwarzweiß-Bilder sind hochästhetisch und stilisiert, ein tolles Stück Kino in Nachfolge von Raoul Pecks I’m Not Your Negro, das mich mit den vielen Close-ups auf die Gesichter der Protagonisten und die cinephile Inszenierung allerdings mit etwas unguten voyeuristischen Gefühlen in den Mittag entlässt.
Am Nachmittag gönne ich mir ein bisschen Rotterdamer Hafen, bei herrlich dramatischem Wetter, Sonne, Wind und Regen. Heute Abend geht es in Serdtse mira – Core of the World, eine russisch-litauische Koproduktion von Natalya Meshchaninova über einen Mann, der mit seiner Familie bricht und sich als Tierarzt aufs Land zurückzieht.
4.7.2015: Projekt A, das steht für Projekt Anarchie, Menschen und Gemeinschaften, die in der Tradition des Anarchismus gegen die Ungerechtigkeiten und das Leid protestieren, die der kapitalistischen Gesellschaftsordnung entspringen, und versuchen, Alternativen zu finden und zu leben. In dem Dokumentarfilm besuchen wir das alternative Stadtviertel Exarchia in Athen, Anarchosyndikalisten in Barcelona, begleiten Gleisbesetzer nach Gorleben und sitzen in einer Plenumssitzung des Münchner Kartoffelkombinats. Das hat nicht immer notwendigerweise etwas mit Anarchie zu tun, der Film hätte statt Projekt A(narchie) wohl besser Projekt A(lternative) geheißen. Und leider geben Moritz Springer und Marcel Seehuber nur einen (vor allem etwas willkürlich geratenen und) winzigen Einblick in die weite Welt der vielen verschiedenartigen alternativen Projekte, in denen Menschen zur Zeit sich und ihr Leben jenseits der Mehrheitsgesellschaft zu organisieren versuchen.
Die Filmemacher hätten besser daran getan, umfassender zu recherchieren sowie dichter, analytischer und genauer zu erzählen. Ein gut gemeinter, engagierter, aber bedauerlicherweise nicht besonders gut gemachter Dokumentarfilm über die Frage, welche Lebensalternativen es uns in der heutigen kapitalistischen Gesellschaftsordnung bleiben. Beim Münchner Publikum kam Projekt A hingegen gut an und wurde sogar mit dem Publikumspreis des Münchner Filmfestes belohnt. Sei‘s drum.