ber20 – der vierte tag

Ich sehe den isländischen Last and First Men, einen in bester Hinsicht strengen Film. Es gibt Bild – schwarz-weiß- Aufnahmen von brutalistischer Kriegsdenkmalarchitektur im ehemaligen Jugoslawien –, es gibt Ton – die sphärische Musik des isländischen Komponisten Jóhann Jóhannsson, der auch Regie geführt hat – und es gibt Text – die Stimme Tilda Swindons liest aus dem dystopischen Science fiction-Klassiker von Olaf Stapledon. Das wars. Alles weitere findet im Kopf des Zuschauers statt. Einfach wunderbar.

Am Abend gehe ich in die Woche der Kritik. Das Konzept: Ein Kurzfilm, dann ein langes Format. Im Anschluss diskutieren zwei Kritiker über die Filme. „The point ist to remove the films from authorship.“ Zunächst also Cães que ladram aos pássaros – Dogs barking at birds der jungen Portugiesin (Jahrgang 1992) und aus dem Dokumentarfilm stammenden Leonor Teles. Lief auf der Mostra in Venedig und war Finalist um den European Film Award in der Kategorie Kurzfilm. Mit dem jungen schönen Vicente Gil (er selbst) streife ich zwanzig Minuten durch sein Leben in Lissabon einschließlich Nachtleben, Strand, prekären Lebensverhältnissen und Gentifizierung. Vergeblich warte ich auf einen besonderen Moment oder einen eigenen Zauber, sodass am Ende das dokumentarische Moment über einen durchschnittlichen – vielleicht sogar ein bisschen banalen – jungen Menschen in einer europäischen Großstadt überwiegt.

Im Anschluss Pansori Boxer – My punch-drunk boxer, eine trashig-bonbonfarbene Martial Arts-Verarsche, die ihre Längen hat, nicht ganz genrefest ist und in der für meinen Geschmack entschieden zu wenig gekämpft wird. Doch am Ende geht mir der zwischenzeitlich leichthändige Erstling des Südkoreaners Jung Hyuk-ki noch richtig ans Herz.

seishin o – zero

© Laboratory X, Inc.

Die Kamera blickt in einen kleinen Raum. Am Schreibtisch in der Ecke sitzt der Psychiater, davor der Patient, ein vielleicht dreißigjähriger Mann, dessen Mutter  an der Tür stehenbleibt. Der Patient erzählt, der Psychiater nickt, schließt immer wieder länger die Augen. Es geht um Wünsche. Der Arzt schlägt vor, sich an einem Tag der Woche „auf Null zu setzen“, sich dem Erleben und Befriedigen von Begehren und Wünschen zu entziehen und lediglich zu spüren, dass man lebt. Sich auf Null setzen und versuchen, das eigene Leben zu empfinden, froh zu sein, dass man am Leben ist. „seishin o – zero“ weiterlesen

si c’était de l’amour

Film kann so viel mehr sein als einfach ’nur‘ Spiel- oder Dokumentarfilm. Das ist das erste, was mir nach wenigen Minuten von Si c’était de l’amour in den Sinn kommt. Das, was da auf der Leinwand zu sehen ist, ist keine reine Dokumentation der Rave-Tanzperformance „Crowd“ von Gisèle Viennes; vielmehr setzt sich Patric Chiha mit filmischen Mitteln mit Tanz, den Tänzerinnen und Tänzern, mit den darstellten und dahinterliegenden Stories des Stücks, mit der Choreographie und der eigentlichen Show auseinander.

Die Handlung der Performance: ein Rave in den 1990ern, es wird getanzt, Techno, in slow motion. Allein, paarweise, in Gruppen, einander zu- und abgewandt. Ein äußerst komplexes soziales Gefüge und Verhalten. Den Tanz sehen wir in der Szenerie der abschließenden „Show“, die Darstellerinnen und Darsteller in Kostümen, es gibt ein Szenenbild mit Matsche auf dem Boden, die dröhnende Musik. „si c’était de l’amour“ weiterlesen

Miles Davis: Birth of the Cool

In der (ausverkauften) Spätvorstellung dann als Bonbon Miles Davis: Birth of the Cool des Amerikaners Stanley Nelson. Ein chronologisch erzählter Dokumentarfilm, der durch sein reiches Bildmaterial beeindruckt, aber vielleicht etwas konventionell erzählt und teilweise zu schnell geschnitten ist. Neben dem widersprüchlichen Charakter und dem enormen Erneuerungswillen sowohl im Jazz als auch des eigenen Selbst geht es auch um die Rolle von Miles Davis als (Vor)Bild und die Identifikationsfigur, die er als stolze, elegante und selbstbewusste öffentliche Persönlichkeit für die afroamerikanische Kultur und Community gespielt hat.

iffr – letzter tag: doku über Ziva Postec

Mein letzter Tag auf dem Rotterdamer Filmfestival beginnt um 9.15 Uhr mit dem Dokumentarfilm Ziva Postec. La monteuse derrière le film Shoah von Catherine Hébert. Ziva Postec arbeitete sich ab 1979 sechs Jahre lang, bis zur vollständigen Erschöpfung, durch die 350 Stunden Filmmaterial, das Claude Lanzmann für den Film gedreht hatte. Abgesehen von dem schieren Umfang und des emotional extrem belastenden Inhalts der Augenzeugenberichte über den Holocaust bestand das Material ausschließlich aus Interviews, die extrem schwierig zu einem Film zu montieren waren. Ziva Postec überzeugte Lanzmann, wieder nach Polen zu fahren und die Orte der Vernichtung heute zu filmen, um Landschaften als Räume der Imagination für die Zuschauer zu schaffen. Die Montage von Shoah war ein Mammutprojekt, in das sich Ziva Postec wie in einem freiwilligen Gefängnis selbst eingeschlossen und für das sie persönlich viel geopfert hat, wie sie freimütig auch mit großer Reue im Blick auf ihre Familie einräumt. Trotzdem sagt sie, die Arbeit an diesem wichtigen Film sei der Höhepunkt ihrer Karriere gewesen. Zu dem schwierigen und egomanen Claude Lanzmann bricht der Kontakt im Anschluss an die Vollendung des Films ab und Ziva Postecs Anteil an diesem Film gerät in Vergessenheit.

historia de mi nombre

In ihrem Erstlingsfilm (Weltpremiere auf dem IFFR 2019) geht die junge chilenische Filmemacherin Karin Cuyul (Jg. 1988) auf dokumentarische Spurensuche nach ihrem Namen, die tief in die Geschichte ihrer Familie eindringt. Sie wurde benannt nach Karin Eitel, die im Untergrund gegen die Pinochet-Diktatur gekämpft hatte, 1987 verhaftet und dann im staatlichen Fernsehen live unter Folter zu einem Geständnis gezwungen worden war. Eine innere Unruhe hatte die Macherin von Historia de mi nombre Karin Cuyul dazu veranlasst, filmisch dem Bild nachzuforschen, das die Eltern jener Karin Eitel später bei einer Begegnung von ihr gemacht hatten. Sie legt ihrer Recherche strenge Regeln auf: Sie möchte im Film nur Fragen stellen, die sich mit filmischen Mitteln beantworten lassen. Außerdem beschäftigt sie sich mit der Geschichte ihres Namens nur soweit es sie auch selbst betrifft. Ein radikaler Ansatz, der in bildlicher sowie narrativer Hinsicht eine Ästhetik der Behutsamkeit und des unbedingten Wahrheitsstrebens mündet, zugleich aber im Impliziten, Vorsichtigen und in der Andeutung verharrt. „historia de mi nombre“ weiterlesen

fabiana

Eine der ersten Einstellungen im Profil, mit der Kippe im Mund, der Blick konzentriert nach vorn auf die Straße gerichtet, den Ellbogen lässig am offenen Fenster, der Wind streicht ihr durchs Haar. Fabiana: Transgender, Lesbe. Truckdriver. Was für eine mutige, coole und freie Frau!

In den 89 Minuten des Films begleiten wir Fabiana zusammen mit der Regisseurin auf ihrer letzten großen Fahrt quer durch Brasilien, bevor sie sich nach dreißig Jahren on the road in den Ruhestand verabschiedet. Zusammengeschnitten aus 80 Stunden Material von Fabiana plus 20 Stunden Landschaftsaufnahmen, aufgenommen auf elf Tausend Kilometern Strecke durch Brasilien in 20 Tagen. Brunna Laboissière begegnete Fabiana zufällig, als sie per Anhalter zu ihren Eltern fuhr. Laboissière sagt vor dem Film, es gehe ihr selbst oft mehr um die Reise als um das Ankommen. Sie fährt zuerst beim Trampen einen ganzen Tag mit ihr, sie reden und reden, am Ende tauschen sie Telefonnummern aus. Die Idee eines dokumentarischen Porträts entsteht.

„fabiana“ weiterlesen

iffr – 2. tag

Zweiter Tag auf dem Internationalen Filmfestival Rotterdam: Los geht es morgens um halb elf mit What You Gonna Do When The World’s On Fire? von Roberto Minervini über das schwierige Leben von Afroamerikanern im alltäglichen Rassismus im Süden der USA. Emotionales dokumentarisches Black Cinema, nah an den starken Figuren, mitreißend, politisch. Die Schwarzweiß-Bilder sind hochästhetisch und stilisiert, ein tolles Stück Kino in Nachfolge von Raoul Pecks I’m Not Your Negro, das mich mit den vielen Close-ups auf die Gesichter der Protagonisten und die cinephile Inszenierung allerdings mit etwas unguten voyeuristischen Gefühlen in den Mittag entlässt.

Am Nachmittag gönne ich mir ein bisschen Rotterdamer Hafen, bei herrlich dramatischem Wetter, Sonne, Wind und Regen. Heute Abend geht es in Serdtse mira – Core of the World, eine russisch-litauische Koproduktion von Natalya Meshchaninova über einen Mann, der mit seiner Familie bricht und sich als Tierarzt aufs Land zurückzieht.

projekt a

projekta_24.7.2015: Projekt A, das steht für Projekt Anarchie, Menschen und Gemeinschaften, die in der Tradition des Anarchismus gegen die Ungerechtigkeiten und das Leid protestieren, die der kapitalistischen Gesellschaftsordnung entspringen, und versuchen, Alternativen zu finden und zu leben. In dem Dokumentarfilm besuchen wir das alternative Stadtviertel Exarchia in Athen, Anarchosyndikalisten in Barcelona, begleiten Gleisbesetzer nach Gorleben und sitzen in einer Plenumssitzung des Münchner Kartoffelkombinats. Das hat nicht immer notwendigerweise etwas mit Anarchie zu tun, der Film hätte statt Projekt A(narchie) wohl besser Projekt A(lternative) geheißen. Und leider geben Moritz Springer und Marcel Seehuber nur einen (vor allem etwas willkürlich geratenen und) winzigen Einblick in die weite Welt der vielen verschiedenartigen alternativen Projekte, in denen Menschen zur Zeit sich und ihr Leben jenseits der Mehrheitsgesellschaft zu organisieren versuchen.projekta_1 Die Filmemacher hätten besser daran getan, umfassender zu recherchieren sowie dichter, analytischer und genauer zu erzählen. Ein gut gemeinter, engagierter, aber bedauerlicherweise nicht besonders gut gemachter Dokumentarfilm über die Frage, welche Lebensalternativen es uns in der heutigen kapitalistischen Gesellschaftsordnung bleiben. Beim Münchner Publikum kam Projekt A hingegen gut an und wurde sogar mit dem Publikumspreis des Münchner Filmfestes belohnt. Sei‘s drum.