29.6.2015. Mir scheint, als seien die Filmfestbesucher überall in der Stadt. Auf dem Rad möllere ich fast einen älteren, stark übergewichtigen Mann um, der sich, für mich uneinsehbar, hinter der Ecke Schritt für Schritt die Straße entlang müht – trägt eine Filmfesttasche um den verschwitzten Hals! Im Café reden neben mir zwei mittelalte hippe graubebartete Typen wichtig über – die Andy Warhol-Retrospektive! Überall starrt mich die komische Brille des nicht besonders gelungenen Filmfestplakats an… Vielleicht ist ja heute mein Ermüdungstag, wie der dritte Tag beim Skifahren, wer weiß?
Dabei habe ich das FFM bislang eigentlich sehr genossen. Gestern war es wieder so wunderbar! Mein 178-minütiger chinesischer Angstfilm The Golden Era entpuppte sich als epische Erzählung über das Leben der chinesischen Schriftstellerin Xiao Hong in wirren Zeiten, abgesehen von den vielen chinesischen Namen und den mir völlig unbekannten historischen Ereignissen rund um den chinesischen Bürgerkrieg und der japanischen Invasion in den 30er Jahren, bei denen ich nicht ganz mitgekommen bin, ein richtiges Kinovergnügen, vor allem auf der riesigen Leinwand im Filmtheater Sendlinger Tor!
Wegen des gruseligen Programms verschlägt es mich sonst nur sehr selten in dieses letzte große alte Kino in München, mit Loge und Balkonen und wie es sich gehört, alles in rotem Plüsch. Dass man sich hier wie in den spießigen 50er Jahren fühlt, dafür sorgt dann auch die Kinobetreiberfamilie Fritz Preßmars, die Mutti verkauft mir an der Bar einen Filterkaffee, den mir vor den drei Stunden noch dringend einverleiben muss, und ein bulliger unangenehmer Mann – war es Preßmar selbst ? – verscheucht mich mit groben Drohgebärden, als ich es mir gerade mit Kaffee und Zigarettchen auf der Stufe vor dem Kino gemütlich machen möchte… Wie mir das nur einfallen konnte, wie ein Penner… Ach so: Nach dem Film das übliche ewige Warten auf der Damentoilette, ich bin eine der letzten. Ich hänge gerade über der Schüssel, da gellt eine weibliche Stimme: „Jetzt aber ein bisschen Beeilung, die Damen! Sehn se zu, dass Sie endlich fertig werden!“
Während des Filmfestes ist das Publikum internationaler als sonst. In The Golden Era sitze ich mit einer ganzen Menge asiatischer Frauen im Saal, im Pasolini am Samstag in der Spätvorstellung waren viele Italiener und Franzosen im Publikum. Schön! Allerdings – und da bleibt München eben anscheinend doch München, egal wie international es beim Filmfest auch daher kommt – ins Gespräch kam ich bislang trotzdem mit niemandem … Dabei hätte ich vor allem für meine Ratlosigkeit, was den Pasolini angelangt, tatsächlich Redebedarf…
Der Kontrast zwischen den biographischen Filmen Pasolini und The Golden Era könnte nicht größer sein, hier ein Tag, dort das ganze Leben, hier radikale Innensicht, dort Zeugnisse von Weggefährten, hier stehen das Werk und die politischen Ansichten im Mittelpunkt, dort die Persönlichkeit und der Lebenslauf, hier die große intellektuelle Geste von Abel Ferrara, dort die sympathisierende und zurückhaltende Präsentation durch Ann Hui.
Im Unterschied zum Pasolini fahre ich jedenfalls nach The Golden Era sehr beschwingt durch die Abendsonne nach Hause. Obwohl die kurze Lebensgeschichte der Xiao Hong alles andere als glücklich war, hat der Film von Ann Hui auf mich eine erhebende Wirkung: Dass sich ein solch fragiler Mensch in einer derart von Konventionen geprägten Zeit seine innere Freiheit bewahren konnte! Beeindruckend.
Den Pasolini habe ich wohl einfach nicht verstanden, ich weiß viel zu wenig über den italienischen Regisseur und habe – wenn ich mich richtig entsinne – nur Accattone gesehen (und war schwer beeindruckt – aber auch etwas sprachlos angesichts der Schroffheit des Films). Natürlich war Willem Dafoe toll, aber der ganze Film kam für meinen Geschmack etwas anmaßend daher, tat so, als könne er in seine Person hineinsehen, zugleich bleibt alles etwas enigmatisch. Filmausschnitte aus Salò wechseln mit einer vorgelesenen Erzählung, die Pasolinis nächstes Filmskript zu sein vorgibt (oder tatsächlich war?), die Abel Ferrara dann mit fiktiven Pasolini-Film-Bildern illustriert. Pasolini als politischer Mensch, kompromisslos in seiner kritischen Haltung – nahm er mit seiner radikalen Bildungs- und Kapitalismuskritik nicht sogar heutige Problematiken vorweg? Wesentlich mehr erfahre ich über Pasolini nicht. Am Schluss des Filmes über den letzten Tag in Pasolinis Leben wird er dann bei einem nächtlichen sexuellen Stelldichein am Strand von Jugendlichen zu Tode geprügelt und mit dem eigenen Auto überfahren. Wirklich schlimm, wusste ich aber schon vorher. Ach ja: Mit dem Zusammenbruch der Mutter am nächsten Tag als Reaktion auf die Ermordung ihres Sohnes presst uns Ferrara dann schließlich noch etwas Rührung ab. Kann mir mal jemand die Relevanz dieser Szene erklären? Aber wie gesagt, ich habe den Film sicherlich nicht richtig verstanden.