L’île rouge

Ich mache jetzt alles falsch und beginne mit dem Ende des Films: Miangaly (Amely Rakotoarimalala) durchschreitet das Tor des Militärgeländes nach draußen und steht in einer anderen Realität: in ihrem eigenen Leben, in einer Welt, die wir den ganzen Film über nicht gesehen haben. Die eigentliche Welt ihres Landes Madagaskar, der roten Insel (L’île rouge / Red Island). Der narrative Bruch irritiert. Aber plötzlich sehen wir auch, dass die französische Kolonialwelt, in der wir die letzten eineinhalb Stunden verbracht haben, schwer bewacht und mit Stacheldraht umzäunt ist, wie abgeschirmt sie von diesem Land und seiner Bevölkerung ist. Und dass ihr Schicksal eine völlig andere Geschichte ist.

Inspiert von seinen Kindheitserinnerung nahm uns Robin Campillo mit in das Leben der Angehörigen der französischen Militärs Anfang der 1970er Jahre, die in Madagaskar auch nach der Unabhängigkeit 1960 stationiert waren. Ein sorgloses Leben im Wohlstand, unter Freunden, wie ein nie endener Urlaub im Paradies. Es gibt das großzügige eigene Haus mit Angestellten, durch die gut eingeübt hindurchgesehen wird, Parties, den Swimmingpool für die Nachmittage, den Strand am Abend. „Das ist der schönste Ort auf der ganzen Welt“ ist ein Satz, der mehrmals fällt.

Grenzgänger zwischen diesen beiden Welten ist der Neue. Der junge Soldat ist ruhig und wach, seine Frau hält das Heimweh nicht aus und kehrt nach Frankreich zurück, Bernard (Hugues Delamarlière) freundet sich mit Madagassen an. Das eigene System detektiert augenblicklich die Sensibilität des jungen Mannes und die Gefahr, die von ihr ausgeht – seine Empfänglichkeiten werden nicht geduldet. Scheinbar nebenbei und nur in Andeutungen wird erzählt, wie die Normalisierungsinstanzen Bernard disziplinieren: sozial durch Rassismen, deren Brutalität krass mit den scheinbar zivilisierten Umgangsweisen der Expat-Community kontrastiert, medizinisch durch Pathologisierung und Medikamentisierung sowie religiös-moralisch durch die Kirche in Gestalt von Père Bertin (Vincent Schmitt).

Überhaupt geht es viel um Institutionen und die Gewalt, die sie ausüben. An erster Stelle natürlich die ehemalige Kolonialmacht, die das Land auch nach der Unabhängigkeit in enger wirtschaftlicher und militärischer Abhängigkeit an der Kandarre hält und weiter ausbeutet. Die Kamera (Jeanne Lapoirie) fängt im Blick des zehnjährigen Thomas (Charlie Vauselle) dann die kleinen brutalen Gesten des Vaters ein, Manifestationen der durch die Institution der Ehe legitimierten patriarchalen Gewalt, mit denen der Vater im Alltag die Mutter (Nadia Tereszkiewicz) im wahrsten Sinne im Griff hält, die offener denkt und – wenngleich leise aber doch – etwas sagt und damit einen fast schon ohnmächtigen Zorn des Vaters weckt. Es hat mich sehr beeindruckt, mit welch minimalem Spiel Quim Gutiérrez diesen unsicheren, polterigen und leicht gekränkten Robert verkörpert, diesen mit schmallippiger Verbissenheit zu verbalen Unflätigkeiten und Grobheiten neigenden Mann, der um seinen sozialen Status kämpft und damit verbunden um die Aufrechterhaltung seiner offenbar so fragilen Männlichkeit.

Es ist die allgegenwärtige Beiläufigkeit von Kolonialismus und Gewalt, die diesen Film so stark macht. Die einzelnen Elemente dieser Gewaltregime bilden das Grundrauschen im Kosmos des stillen Kindes, das mit großen Augen versucht, seine Umwelt und vor allem die mysteriöse Welt der Erwachsenen zu verstehen, indem es sich alles möglichst genau ansieht, zuerst allein, dann gemeinsam mit seiner Schulfreundin Suzanne (Cathy Pham). Sein Lieblingsort ist ein Holzverschlag auf dem Innenhof, in dem Thomas geschützt ist und durch die Spalten zwischen den Holzplanken die Welt draußen beobachten kann. Und wo er in der Ecke zusammengekauert im Halbdunkel seine geliebten Fantômette-Geschichten liest. Campillo nimmt uns dann auch in diese Welt des braven Schulmädchens mit, das nachts in Umhang und Maske gegen das Verbrechen und das Böse kämpft. Fantômette ist eine unangenehme Heldin, hochnäsig und arrogant, und die animierte Welt seltsam steril. Gleich an mehreren Stellen im Film verschmilzt diese verstörende Aseptik des Animes mit der Optik der gespielten Handlung, sodass ich einen Moment lang nicht weiß, in welcher Welt weitererzählt wird. Diese Überblendung der Realitäten des Kindes, zwischen seinen Tagträumereien und seinen Beobachtungen des seltsamen Verhalten der Erwachsenen, ist ein gelungener Kunstgriff Campillos.

Und deswegen macht es dann eben Sinn, dass der Film in dem Moment auseinanderfällt, als Miangaly die Militärbasis verlässt und in ihr eigenes Land zurückkehrt. Jetzt sprechen die Menschen ihre eigene Sprache, jetzt geht es um ihr Leben. Sie sind Handelnde. Diese Seite von Madagaskar kann der Junge keine Rolle spielen, es kann nicht aus seiner Sicht erzählt werden. Dieser Bruch in der Perspektive ereignet sich in dem Moment, da Miangaly dem sie beobachtenden Jungen auf die Schlichte kommt. Sie ist von der nächtlichen Unheimlichkeit der Situation nicht eingeschüchtert, sondern schickt ihn auf Malagasy nach Hause: Der Junge versteht, gehorcht und läuft nach Hause.

Robin Campillo ist ein vielschichtiger persönlicher Film über Kolonisation, Gewalt und Kindheit gelungen, der an einigen Stellen aus guten Gründen etwas sperrig ist und zum Glück ohne jede Sentimentalität auskommt. Und das gilt erstaunlicherweise auch für das Ende, als Miangaly sich ihren Freunden anschließt – zusammen fahren sie zum Flughafen, um dort die aus der Haft entlassenen Freiheitskämpfer zu begrüßen. Jetzt werden sie selbst über ihre Geschicke entscheiden. Der Film klingt mit einem Befreiungslied aus und geht in Stille über. Die Stille der Natur mit dem Ächzen des Bambus.

| f, b, madagaskar 2023 | 117 min | reg robin campillo | buch robin campillo & gilles marchand | cam jeanne lapoirie |