Le procès Goldman

Die Vorgeschichte: Im seinerzeit in Frankreich vieldiskutierten Goldman-Skandal ging es um den linken Politaktivisten Pierre Goldman, der im Verdacht stand, mehrere Überfälle sowie einen Doppelmord begangen zu haben, und 1969 verhaftet wurde. Während er sofort alle Überfälle gestand, stritt er die Mordanklage immer vehement ab. 1970 wurde er trotzdem aller Taten schuldig gesprochen. Im Gefängnis schrieb er anschließend ein Buch über seine Version der Geschichte („Souvenirs obscurs d’un juif polonais né en France“), das dazu führte, dass sich unter Beteiligung von bekannten linken Intellektuellen wie Régis Debray und Jean-Paul Sartre ein Unterstützungskommittee bildete, dem unter anderen auch die ausgewiesen linke Schauspiellegende Simone Signoret angehörte. 1976 kam es zur Wiederaufnahme des Prozesses.

In Le procès Goldman geht es allein um diesen Revisionsprozess. Cédric Kahn hält sich streng an die Genrevorgaben des Gerichtsfilms: Der Film spielt (mit Ausnahme einer Szene und einer kurzen Einstellung) im Gericht. Es wird chronologisch erzählt, die Prozessabfolge gibt den Verlauf der Handlung des Films vor: Anhörung des Angeklagten, Befragung der Zeugen, Plädoyers und Urteilsspruch. Und da ein Gerichtsverfahren ein Spiel mit fester Rollenverteilung ist, stehen auch die Protagonisten schon im Vorfeld fest: Richter, Jury, Staatsanwaltschaft, Verteidigung, Angeklagter, Zeugen, Publikum, Reporter. Kahn hält sich an diese Vorgaben und lässt das Drama sich innerhalb dieser Konstellationen abspielen: Es geht um die Spannungen zwischen dem unkontrollierbaren Angeklagten und seinem Verteidiger Georges Kiejman (Arthur Harari), um die platzierten Provokationen des national eingestellten Anwalts der Nebenklage, um durch die aufgewühlte Anhängerschaft Goldmans und um die Empörung der von Goldman des Antisemitismus beschuldigten Polizisten, was teilweise zu tumulthaften Szenen führt.

In gestalterischer Hinsicht ist der Film angenehm stimmig: Wir sehen im quadratischen Format leicht körnige Bilder in fahlen braun-grauen Farbtönen, über den Bildern scheint der leichte kaum wahrnehmbare Schleier zu liegen, den uns von Fotografien aus dieser Zeit vertraut ist. Es gibt keine Filmmusik. Angeblich sagte Cédric Kahn in einem Interview, er wolle zurückkehren zur Essenz des Filmemachens: dem Filmen einzigartiger Gesichter, was  gut zu diesem Film passt: Die Handlung entwickelt sich ausschließlich aus der Rede und der Gegenrede der Figuren, eindrücklich dabei etwa die Darstellung des Richters (Stéphan Guérin-Tillié) und des Nebenklägeranwalts Henri-René Garaud (Nicolas Briançon).

Im Mittelpunkt steht allerdings natürlich Pierre Goldman selbst, der nicht unbedingt sympathische, aber auf alle Fälle charismatische Angeklagte, dessen Angefasstheit Arieh Worthalter mit einem beserkerhaften Sprech-, Körper- und Mimenspiel so intensiv darstellt, dass es unter jüngeren Zuschauern zuweilen Lacher provozierte, bei mir aber eher peinliche Berührung angesichts der heute anachronistisch wirkenden tiefen moralischen Überzeugungen und des ironiefrei-pathetischen Vortrags. Dank Worthalters Schauspielleistung werden die Ambivalenzen der Figur des Goldman offenbar. Der 1944 geborene Pierre will den heroischen Vorbildern seiner Eltern folgen, die als polnische Juden in Frankreich in der Résistance gekämpft hatten, er versteht sich, wie er an einer Stelle sagt, als  juif guerrier. Als Mitglied der internationalen radikalen Linken kämpft er unter anderem als Guerillero in Venezuela, strandet aber letztlich wenig heldenhaft in Paris. Goldman wird als Vertreter rigoristischer moralischer Grundsätze mit altruistischen und selbstlosen Zügen gezeichnet und als Kämpfer gegen Ungerechtigkeit, Faschismus und Antisemitismus, denen er nach seiner Meinung in diesem Prozess selbst zum Opfer fällt.

Cédric Kahn trifft offenbar einen Nerv des aktuellen französischen Films, wenn man bedenkt, dass dies mit Alice Diops Saint Omer und Justine Triets Anatomie d’une chute der dritte erfolgreiche französische Gerichtsfilm in zwei Jahren ist. Abgesehen davon, dass es sich um einen exzellenten Genrefilm handelt, in dem die Sprache im Mittelpunkt steht und Kahn nicht davor zurückschreckt, seine Protagonisten viel und – wenn man an den Verteidiger Kiejman denkt – auch wirklich sehr schnell sprechen zu lassen, gelingt in Le procès Goldman aber vor allem das Porträt einer aus heutigen Perspektive fremd gewordenen Zeit, dessen intellektuelles Klima geprägt war von allgegenwärtigem Holocaust und einem ausgesprägten Links-Rechts-Schema und Freund-Feind-Denken. Es geht um jüdische Identität nach der Schoah, um moralische Prinzipien und politisches Engagement sowie nicht zuletzt um Demagogie in der linken Bewegung.

| f 2023 | 115 min | reg cédric kahn | buch cédric kahn & nathalie hertzberg | cam patrick ghiringhelli |