Die Vorgeschichte: Im seinerzeit in Frankreich vieldiskutierten Goldman-Skandal ging es um den linken Politaktivisten Pierre Goldman, der im Verdacht stand, mehrere Überfälle sowie einen Doppelmord begangen zu haben, und 1969 verhaftet wurde. Während er sofort alle Überfälle gestand, stritt er die Mordanklage immer vehement ab. 1970 wurde er trotzdem aller Taten schuldig gesprochen. Im Gefängnis schrieb er anschließend ein Buch über seine Version der Geschichte („Souvenirs obscurs d’un juif polonais né en France“), das dazu führte, dass sich unter Beteiligung von bekannten linken Intellektuellen wie Régis Debray und Jean-Paul Sartre ein Unterstützungskommittee bildete, dem unter anderen auch die ausgewiesen linke Schauspiellegende Simone Signoret angehörte. 1976 kam es zur Wiederaufnahme des Prozesses. „Le procès Goldman“ weiterlesen
Schlagwort: Französischer Film
L’île rouge
Ich mache jetzt alles falsch und beginne mit dem Ende des Films: Miangaly (Amely Rakotoarimalala) durchschreitet das Tor des Militärgeländes nach draußen und steht in einer anderen Realität: in ihrem eigenen Leben, in einer Welt, die wir den ganzen Film über nicht gesehen haben. Die eigentliche Welt ihres Landes Madagaskar, der roten Insel (L’île rouge / Red Island). Der narrative Bruch irritiert. Aber plötzlich sehen wir auch, dass die französische Kolonialwelt, in der wir die letzten eineinhalb Stunden verbracht haben, schwer bewacht und mit Stacheldraht umzäunt ist, wie abgeschirmt sie von diesem Land und seiner Bevölkerung ist. Und dass ihr Schicksal eine völlig andere Geschichte ist.
Inspiert von seinen Kindheitserinnerung nahm uns Robin Campillo mit in das Leben der Angehörigen der französischen Militärs Anfang der 1970er Jahre, die in Madagaskar auch nach der Unabhängigkeit 1960 stationiert waren. Ein sorgloses Leben im Wohlstand, unter Freunden, wie ein nie endener Urlaub im Paradies. Es gibt das großzügige eigene Haus mit Angestellten, durch die gut eingeübt hindurchgesehen wird, Parties, den Swimmingpool für die Nachmittage, den Strand am Abend. „Das ist der schönste Ort auf der ganzen Welt“ ist ein Satz, der mehrmals fällt.
iffr2023 – der dritte Tag
Mein dritter Tag in Rotterdam. Nach der gestrigen Pleite schaue ich am Nachmittag drei Filme unmittelbar nacheinander und muss mich ein bisschen beeilen, um zwischen den beiden Kinos hin und her zulaufen. Ich beginne mit Tigru – Day of the Tiger und: Meine Wertschätzung für den rumänischen Film wird nicht enttäuscht.
Etwas ratlos bin ich hingegen mit dem in der Kritik bisher hochgelobten Saint Omer von Alice Diop, einem wunderschön fotografierten und karg inszenierten Film, der von einem Gerichtsprozess um eine senegalesische Frau erzählt, die ihr Baby umgebracht hat, ihre Tat nicht, wohl aber ihre Schuld leugnet. Es geht um intergenerationale Traumavererbung, um kolonial gesteuerte Blicke und Verurteilungen, um Mutterschaft – spannende Themen, ich bleibe aber nachhaltig irritiert von der unangemessen emotionalisierenden Machart.
Schließlich geht es auf die Weltpremiere des slowakischen Politthrillers Moc – Power, die Crew ist abgesehen von Regisseur Mátyás Prikler anwesend. Es ist erst neun, als ich an diesem Tag mit Filmschauen fertig bin. Ich setze mich ins sehr laute, dafür aber angenehm leicht überheizte Theatercafé und schreibe, bis mir die Augen zufallen.
onfim
Vierminütiger minimalistisch gezeichneter Kurzfilm von Damien Tran. Erzählt wird eine tragische Liebesgeschichte im Stummfilm-Stil mit Zwischentiteln und wunderbar karger Musik von Cindy Lee. Die Gestaltung der Strichmännchen orientiert sich an einer auf Birkenrinden aus dem Mittelalter überlieferten Zeichnung von Onfim.
si c’était de l’amour
Film kann so viel mehr sein als einfach ’nur‘ Spiel- oder Dokumentarfilm. Das ist das erste, was mir nach wenigen Minuten von Si c’était de l’amour in den Sinn kommt. Das, was da auf der Leinwand zu sehen ist, ist keine reine Dokumentation der Rave-Tanzperformance „Crowd“ von Gisèle Viennes; vielmehr setzt sich Patric Chiha mit filmischen Mitteln mit Tanz, den Tänzerinnen und Tänzern, mit den darstellten und dahinterliegenden Stories des Stücks, mit der Choreographie und der eigentlichen Show auseinander.
Die Handlung der Performance: ein Rave in den 1990ern, es wird getanzt, Techno, in slow motion. Allein, paarweise, in Gruppen, einander zu- und abgewandt. Ein äußerst komplexes soziales Gefüge und Verhalten. Den Tanz sehen wir in der Szenerie der abschließenden „Show“, die Darstellerinnen und Darsteller in Kostümen, es gibt ein Szenenbild mit Matsche auf dem Boden, die dröhnende Musik. „si c’était de l’amour“ weiterlesen
Une jeunesse dorée
Une jeunesse dorée – das ist Kino, das aus dem Vollen schöpft. Ein opulentes Bilderwerk, das beim Zusehen viel Spaß macht. Das Setting: Ende der 70er Jahre, die französische queere Discoszene, Hauptspot: der legendäre „Le Palace“, der angesagteste Club von Paris. Auch wenn die Story manchmal etwas stockt, treibt einen die Musik durch den Film. Die Figuren sind von Alkohol und Drogen aufgepuscht, drehen immer weiter auf, die Emotionen schrauben sich immer höher. Wir sind im „Le Palace“, wir sind in einem prächtigen Anwesen auf dem Land, wir sind in einer riesigen Altbauwohnung, am Pult legt ein afroamerikanischer DJ auf und tanzt, alle Figuren sind exaltiert und aufgedresst und jung und schön. „Une jeunesse dorée“ weiterlesen
ffm19 – erster tag
Mit den Filmen geht es für mich erst am Sonntag am frühen Abend los. Dieses Jahr ein schöner Auftakt mit Une jeunesse dorée, einem pulsierenden Film über Verführung, Manipulation, Liebe und Käuflichkeit, ein Porträt der Dekadenz, der Popmusik, der Mode, der queeren Szene Ende der 1970er Jahre. Eva Ionesco setzt dem legendären Pariser Club Le Palace in diesem autobiographischen Film ein opulentes Denkmal. Mit ISABELLE HUPPERT und MELVIL POUPAUD. Vielleicht kein wirklich guter Film, Huppert und Poupaud liefern hier wohl nicht ihre besten Darbietungen, aber ein Film, der aus dem Vollen greift und deswegen trotzdem Spaß macht.
Trotz des langen Tags und der extremen Hitze, die die ganze Stadt in eine dickflüssige Luft einhüllt, schaffe ich es noch in eine Spätvorstellung. Als ich im Arri ankomme, bin ich schockiert: Das alte Kino ist verkauft und zur Astor Film Lounge umgestaltet worden, ein weiteres Traditionskino ist gestorben. Ich sehe Ethan Hawkes neuen Streifen über Blaze Foley, einen Folkmusiker, der die große Karriere nie geschafft hat. Ein berührender Musik- und ein Liebesfilm, authentisch, nah an seinen knorrigen Figuren, mit wunderbarem Soundtrack.