In the Shadows katapultiert den Zuschauer direkt in die laute Betriebsamkeit der Altstadt von Delhi. Das Gassenlabyrinth bildet eine abgeschlossene eigene Welt, die derart in sich verwinkelt ist, dass in diese Häuser, Hinterhöfe und Wohnungen kaummehr Licht gerät. In den verfallenen Gebäuden, die mit schweren Türen und Pforten, die mit alten Vorhängeschlössern und -ketten wie verfallene Festungen gesichert werden, zeichnet der Regisseur Dipesh Jain in seinem Langspiel-Debüt eine ruinenhafte Welt, in deren Sträßchen, vollgepfropft mit Menschen, Geschäften und Lärm, das Leben pulsiert. In dieser wuseligen Enge von Old Delhi taumelt Khuddoos, die Hauptfigur des Films, durch sein Leben. Er schläft und isst nur noch wenig, verschanzt sich hinter den Bildschirmen von Überwachungskameras, mit denen er heimlich seine Nachbarschaft beobachtet. Seinen kleinen Laden öffnet er nicht mehr, und nur noch selten kommt er vor die Tür, wenn er gelegentlich nachts oder frühmorgens durch das schlafende Viertel streift – das Viertel, aus dem er niemals herausgekommen, das ein Gefängnis geworden ist für ihn. Khuddoos zieht sich immer weiter in seine Innenwelt zurück und verliert nach und nach den Kontakt zur Welt, es bleiben nurmehr die flackernden Bilder, Schattenbilder des Lebens der Anderen.
Parallel dazu eine Straßenszene im muslimischen Metzgerviertel von Old Delhi, offene Läden, in denen an großen Haken halbierte frisch geschlachtete Tiere hängen, Vieh ausgenommen und Innereien kleingehackt wird. Wie die Produzentin Lena Vurma im anschließenden Filmgespräch (dem Regisseur wurde in letzter Minute das Visum verwehrt) erzählt, gab es hier kein Szenenbild, das wurde vor Ort gedreht, wie das Blut in Strömen über die Straße fließt, überall Fliegen. Durch die enge Gasse wird eine Ziege gezerrt, die der Metzger routiniert zu Boden wirft und ihren Hals zur Schlachtung freihält. Der Junge soll es machen und bekommt das Messer in die Hand gesteckt. Idris steht mit verschlossener Miene und starrem Blick nur da. Der Mann zeigt ihm nochmal, wie der Schnitt ausgeführt werden muss, doch der Junge regt sich auch nach der nächsten, drängenderen Aufforderung nicht. Schließlich entreisst ihm der Vater verärgert das Messer, der Junge sieht nur das Blut die Straße hinunterlaufen und die Beine des Tieres, die dann irgendwann aufhören sich zu zucken. Diese Szene ist von erheblicher Brutalität, was wohl auch darauf zurückzuführen ist, dass der Regisseur und seine Familie seit vielen Generationen dem Jainismus angehört, einer Religion, die den Gewaltverzicht, insbesondere gegen Tiere, zum zentralen Grundsatz hat. Die Gewalt richtet sich gegen das Tier, aber auch gegen den Jungen. So wie der Vater den Jungen zum Töten des Tieres zwingen will, so wird er ihn in der nächsten Szene zu Hause aus einem nichtigen Grund zusammenschlagen.
Khuddoos wird Zeuge dieser Misshandlung. Sein Entsetzen über diese Gewalt an einem Kind und seine Sorge, dass dem Jungen dies nochmal oder Schlimmeres widerfahren könnte, reisst ihn aus seiner agonalen Lethargie und droht, ihn vollkommen in den Abgrund zu stürzen.
Unglaubliche nahe und authentische Aufnahmen aus dem Viertel, verwinkelte Straßen, Terrassen, Treppenaufgänge, Balkone, Eingänge, die Gassen so eng, dass man daran zweifelt, ob man da überhaupt durchgehen kann. Überall abgestellte Mopeds, gefühlt eine Million kleiner Läden. Mit der Kleinteiligkeit, die sich wimmelbildartig zu eigenen Strukturen abstrahiert, entstehen in diesem Film Aufnahmen, die zuweilen an Andreas Gursky erinnern. Für die Fotografie zeichnet der deutsch-tschechische Kameramann Kai Miedendorp verantwortlich, der mit dieser Arbeit, für die er auf dem Mumbai Filmfestival ausgezeichnet wurde, ein absolut sehenswertes Porträt Old-Delhis schafft. Außerdem beeindruckt In den Shadows mit seinem Cast: Khuddoos wird verkörpert von Mahoj Baipayee, der in Indien so bekannt ist, dass beim Dreh die Besetzung geheim gehalten werden musste, um die Dreharbeiten wegen Schaulustiger nicht zu gefährden. Beipayee scheint in den Charakter völlig eingetaucht zu sein, er zeichnet den beginnenden Wahn in scheinbar winzigen Gesten, die aber so stark und radikal subjektiv sind, dass sie den Zuschauer soghaft in seine Welt ziehen. Für Om Singh (Idris) ist In the Shadows hingegen der erste Film. Om konnte in seiner Darstellung auf die eigene Erfahrungen zurückgreifen, weil er selbst auf der Flucht vor der Gewalt in seiner Familie ausgerissen ist. An der Seite Oms sehen wir die in Bollywood wie auch in internationalen Produktionen tätige Shahana Goswami als die liebende, Idris aber nicht vor dem Vater zu schützen vermögende Mutter des Jungen.
Auch wenn die Story etwas durchsichtig ist, der Film sich zuweilen etwas zieht und das Ende nicht ganz unerwartet kommt, so bleibt In the Shadows ein sehenswerter engagierter Film über traumatisierende Kindermisshandlung und ein wunderbares Porträt Old Delhis.