Zwei Studierendenfilme: Annunciation und Das unmögliche Bild

annunciation_filmplakat_dw_2Müde nach viel zu kurzer und ansonsten schlechter Nacht, das Schreiben dauert und ich verschiebe meinen ersten Filmslot des Tages auf den frühen Nachmittag. Da werden zwei Studierendefilme zusammen gezeigt, ein Kurz- und ein Langfilm. Zuerst sehe ich den KHM-Erstling Annunciation von Halit Ruhat Yildiz. Ein kleiner, 22 minütiger Film über eine im deutsch-türkischen Milieu in Köln angesiedelte Beziehung (Ismail Zagros und eine durch ihr feines und differenziertes Spiel beeindruckende Neshe Demir) und über eine folgenschwere Entscheidung. Es geht um Krebs und Tod und Weiterleben. Auch wenn mich der Film nicht richtig begeistert, ist er doch genau beobachtet und nah an den Figuren fotografiert.

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Bild: Hofer Filmtage 2016

Direkt im Anschluss ein Film der im dritten Jahr an der Filmhochschule Ludwigsburg studierenden Autorin und Regisseurin Sandra Wollner. Das unmögliche Bild fängt aus dem Superachtfilm-Kamera-Blick der dreizehnjährigen Johanna im direct-cinema-Stil die Erinnerungen an eine Kindheit im Wien der fünfziger Jahre ein, an die mehrere Generationen übergreifende Familie, die gemeinsam in einer Wohnung lebt, an die Großmutter Maria, eine Engelmacherin, und an die jüngeren und älteren Frauen, die allwöchentlich bei Tee und Schnaps die Wohnung bevölkern. Eva Linder spielt die Maria in diesem kleinen, ambitionierten und nahezu ohne Budget gedrehten Film überzeugend so schroff wie liebevoll und brutal. Eine formal jenseits der ausgetretenen Sehgewohnheiten angesiedelte Coming-of-Age-Geschichte, eine atmosphärische Reflexion über Erinnerung und Wahrnehmung.

NACHTRAG: Sandra Wollner gewinnt mit Das unmögliche Bild den mit satten 10.000 Euro dotierten Förderpreis Deutsches Kino der Hofer Filmtage!

Chris Kraus: Die Blumen von gestern

An die Leserin und den Leser: Wer vor hat, diese ‚Tragikomödie‘ noch zu sehen und sich lieber ein eigenes Urteil bildet: Die Blumen von gestern kommen nächstes Jahr ins Kino. Hier hingegen folgt ein erboster Verriss, der auch Pointen verrät!

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quelle: hofer filmtage

Warum? Weil es unverzeihlich ist. Es gibt Wendungen in Geschichten, die sind irgendwie blöde oder unpassend, aber verzeihlich. Wenn aber ein impotenter Holocaust-Täter-Enkel von einer Holocaust-Opfer-Enkelin von seinem sexuellen Unvermögen erlöst und dies noch dazu von Anfang an absehbar ist – dabei hofft der Zuschauer noch verkniffen, nein, das kann einfach nicht sein, bitte, lass das nicht passieren, bitte!, neinneinneinnein… und es natürlich doch passiert -, ist das einfach unverzeihlich. Und dann wird bei diesem alles erlösenden Geschlechtsverkehr auch noch ein Kind gezeugt – die Frucht der Versöhnung -, was die Liebenden bereits am Folgetag wissen, weil sie den Eisprung hören (!), aber das nur als Nebennotiz. „Chris Kraus: Die Blumen von gestern“ weiterlesen

Die Eröffnung

blumenvongestern_poster_150 Jahre Hofer Filmtage. 49 Jahre lang standen sie unter der Leitung von Heinz Badewitz, der plötzlich im Frühjahr (während einer Kinovorstellung auf einem Festival) verstorbene Initiator, Motor und spiritus rector des Festivals. Jetzt die unmögliche Situation, den runden Geburtstag einer Institution ohne seine wichtigste Figur zu feiern. Natürlich fließen bei der Eröffnung Tränen, das Kuratorium der Jubiläumsausgabe Linda Söffker (Perspektive Deutsches Kino auf der Berlinale), Alfred Holighaus (SPIO – Spitzenorganisation der Filmwirtschaft) und Thorsten Schaumann (Programmacquise bei Sky) erinnern an Badewitz und Alfred Holighaus eröffnet schließlich mit einem angemessenen Zögern das Festival. Der Eröffnungsfilm: Chris Kraus‘ Die Blumen von gestern.

Vor dem Film liest Kraus, der 2006 mit Vier Minuten in Hof debütierte, noch den Brief vor, den er an Badewitz geschrieben hat, nachdem er von dessen Tod erfahren hat. Dann muss das Publikum eine etwas absurde Grußbotschaft von Ilse Aigner in ihrer Eigenschaft als Bayerische Medienministerin über sich ergehen lassen.

Im Anschluss gibt es Hoferfilmtagebier und Party in einer Fabrikhalle mit lokaler Band. Ich unterhalte mich lange mit der jungen Regisseurin Sandra Wollner, die auf den Filmtagen ihren Hochschulfilm Das unmögliche Bild vorstellt. Ein angeregtes, natürlich auch etwas weinseliges Gespräch über Filme, das Problem der Erinnerung und die psycho-mechanischen Grundlagen der Empathie, das mich über die Party rettet.

50. internationale hofer filmtage

plakat-50-hofer-filmtage-page-001Im etwas beunruhigend ratternden Regionalzug von Nürnberg nach Hof beginne ich systematisch die Mitpassagiere nach möglichen Merkmalen der Zugehörigkeit zur Filmszene zu scannen. Tatsächlich werden die beiden spanisch sprechenden, müden Herren, die mir gegenüber sitzen, am Bahnhof von einem eigens vom Festival eingerichteten Shuttle-Service abgeholt, mitfahren darf ich dann bei dem Schauspieler Ismael Zagros, von dem in Hof gleich zwei Filme laufen – die kurdisch-schweizerische Produktion Schwalbe und der Kurzfilm Annunciation – und mit dem ich mich in ein paar Minuten über Köln unterhalte (er wohnt in Ehrenfeld).

Als erstes rasch mit einer filmtätigen Bekannten ins Pressebüro, Karten für den Eröffnungsfilm Die Blumen von gestern sichern, auf dem Weg zurück traf meine Bekannte noch eine andere Bekannte, die mit einer unerwartet kleinen und zierlichen Hannah Herzsprung unterwegs war, schnell noch vorgestellt und Hände geschüttelt.

In knappen eineinhalb Stunden überfliege ich das ausführliche Festivalprogramm und stelle mir hektisch neun Filme zusammen, die ich mir bis Sonntag ansehen möchte. Ich sitze im Café draußen in der Fußgängerzone, überall um mich herum Menschen mit Filmtage-Bändchen und Programmen unter dem Arm. Dann Pizza und ab zum Eröffnungsfilm.

Willkommen auf den 50. Internationalen Hofer Filmtagen. Es ist nett hier.

Abschluss mit Claire Denis

plakat1Das letzte Wort auf dem Kölner Filmfestes hatte in meinem Falle Claire Denis. Nach dem melancholisch-unsentimentalen Nénette et Boni sah ich am letzten Abend White Material, Claire Denis war im Anschluss anwesend. Isabelle Huppert als störrische Besitzerin einer Kaffeeplantage in einem afrikanischen Land, in dem gerade der Bürgerkrieg ausbricht. Es ist eine irritierende Perspektive, die hier eingenommen wird: Ein Film über ein afrikanisches Land aus der Perspektive einer Weißen, der ganze Film um die Hauptfigur herum erzählt. whitematerialDer Film, den Claire Denis 2009 zusammen mit Marie NDiaye schrieb, tanzt um Isabelle Huppert, deren Bewunderung Denis im Anschluss an die Vorstellung vom Rotwein beseelt beherzt Ausdruck gab. Ein etwas sonderbares Ende des filmfestival cologne 2016.

Vorletzter Tag auf dem Festival Köln

elleplakatBislang ist die Festivalbilanz prächtig, an den drei Tagen habe ich überwiegend tolle Filme gesehen. Und dann der Mittwoch: Zunächst Paul Verhoevens neuer Film: Elle, das ist (fast möchte man sagen: natürlich) Isabelle Huppert als eine wunderbar biestig geratene elegante Pariserin, die in ihrem Haus vergewaltigt wird, Opfer aber höchstens zu Beginn ist. Hintergründiges, spannendes, witziges und vor allem ausgesprochen intelligent geschriebenes Hochglanzkino (Drehbuch: David Birke) nach einer Romanvorlage von Philippe Djian! Brilliant. plakatIn Claire Denis‘ Nénette et Boni am Abend geht es aus der Gegenwart in die Neunziger, aus dem mondänen Paris in ein heruntergekommenes Viertel von Marseille. Die zarte, unsentimental erzählte Geschichte des in den schweren sexuellen Nöten eines verliebten Achtzehnjährigen steckenden Boni und seiner jüngeren ungewollt schwangeren Schwester Nénette, jungen Menschen, auf sich selbst zurückgeworfen, stark und schön, sehr einsam. Eine ruppige Geschwisterliebe in einer rauen Umwelt.

 

 

Oscuro animal

plakat2Gezielte Überfälle auf Zivilisten, Dörfer werden ausradiert oder Passagiere von Linienbussen erschossen. Es herrscht Krieg im Dschungel von Kolumbien. Rebellen oder Soldaten, massive Gewalt auf allen Seiten, Leichen werden in anonyme Massengräber geworfen und verbrannt, Sklavinnen gehalten und brutal vergewaltigt, Frauen morden in den militärischen oder paramilitärischen Strukturen mit und müssen zugleich für sexuelle Dienste zur Verfügung stehen. Die Grenzen zwischen Uniformen, zwischen Täter und Opfer verschwimmen. „Oscuro animal“ weiterlesen

Vierter Festivaltag in Köln

Nachdem ich am dritten Festivaltag von einer unbestimmten Filmmüdigkeit überwältigt worden und deshalb ausgefallen war, startete ich am Dienstag mit neuer Energie in den vierten Festivaltag: Am frühen Nachmittag gab es den kolumbianischen Oscuro animal von Felipe Guerrero über den Krieg in Kolumbien, der mir dann mit seinen poetisch gemeinten Symbolismen etwas überfrachtet im Magen lag. littlemenposterDirekt im Anschluss an diese schwere Kost hatte es Ira Sachs‘ Little Men bei mir ein bisschen schwer, obwohl der Film eine genau beobachtete Coming-of-Age-Geschichte erzählt, eine enge Freundschaft zweier unterschiedlicher Jungen in einem von Gentrifizierung unter Druck stehenden und sich veränderten Viertel von New York. Ein kleiner, sehr schöner Film. Zugunsten eines Kneipengangs ließ ich dann den ursprünglich für den späten Abend geplanten Rester Vertical von Alain Guiraudie sausen, in den ich mich, den trashigen und reichlich expliziten Inconnu du lac kennend, eh nicht so richtig traute.

Volt

| r tarek ehlail | d 2016 | b tarek ehlail | kam mathias prause | ed andrea mertens | a benno fürmann : stipe erçeg : sascha alexander geršak : andré m. hennicke |

volt7Dystopischer Flüchtlingskrisen-Thriller. Hardboiled. Film noir. Silber-grau-atmosphärisch-dunkles Farbsetting, dichte Nahaufnahmen (Kamera: Mathias Prause), schneller Schnitt (Andrea Mertens). Überlaute Musik treibt in harten Hip Hop- und Technobeats den Film vor sich her. Genrekino halt. So etwas darf, muss viril sein. Dass harte Männer ununterbrochen fluchen, versteht sich von selbst. Dürfen auch koksende Unterweltsladys ficken, wenn es denn sein muss. Und rassistische Sprüche gehören zur Grundausstattung der Polizisten einer Einheit, die „in naher Zukunft“ die in einer sogenannten Transitzone ghettoisierten Geflüchteten terrorisieren, um der deutschen Wohlstandsgesellschaft ihre Ruhe zu sichern. „Volt“ weiterlesen

Certain Women

filmplakatLeises rhythmisches Rasseln im Vorspann. Doch bevor der eigentliche Song beginnt, weicht er in der ersten Einstellung des Film dem immer näher kommenden Signal eines Zuges, der in der weiten Landschaft zunächst kaum auszumachen ist. Hinten am Horizont sind im Morgengrauen zwei kleine, fast bewegungslose Lichter zu sehen. Die Gleise machen in der hinteren Ecke des Filmbildes eine Biegung, dann richten sie sich gerade auf den Blickwinkel der Kamera aus. Eine Hochebene, gesäumt von schneebedecktem Hochgebirge. Der Güterzug windet sich langsam auf die Gerade zu, endlose Waggonreihen, das Zugsignal in dieser menschenverlassenen Gegend wird aus unerfindlichen Gründen immer häufiger. „Certain Women“ weiterlesen