ber20 – der vierte tag

Ich sehe den isländischen Last and First Men, einen in bester Hinsicht strengen Film. Es gibt Bild – schwarz-weiß- Aufnahmen von brutalistischer Kriegsdenkmalarchitektur im ehemaligen Jugoslawien –, es gibt Ton – die sphärische Musik des isländischen Komponisten Jóhann Jóhannsson, der auch Regie geführt hat – und es gibt Text – die Stimme Tilda Swindons liest aus dem dystopischen Science fiction-Klassiker von Olaf Stapledon. Das wars. Alles weitere findet im Kopf des Zuschauers statt. Einfach wunderbar.

Am Abend gehe ich in die Woche der Kritik. Das Konzept: Ein Kurzfilm, dann ein langes Format. Im Anschluss diskutieren zwei Kritiker über die Filme. „The point ist to remove the films from authorship.“ Zunächst also Cães que ladram aos pássaros – Dogs barking at birds der jungen Portugiesin (Jahrgang 1992) und aus dem Dokumentarfilm stammenden Leonor Teles. Lief auf der Mostra in Venedig und war Finalist um den European Film Award in der Kategorie Kurzfilm. Mit dem jungen schönen Vicente Gil (er selbst) streife ich zwanzig Minuten durch sein Leben in Lissabon einschließlich Nachtleben, Strand, prekären Lebensverhältnissen und Gentifizierung. Vergeblich warte ich auf einen besonderen Moment oder einen eigenen Zauber, sodass am Ende das dokumentarische Moment über einen durchschnittlichen – vielleicht sogar ein bisschen banalen – jungen Menschen in einer europäischen Großstadt überwiegt.

Im Anschluss Pansori Boxer – My punch-drunk boxer, eine trashig-bonbonfarbene Martial Arts-Verarsche, die ihre Längen hat, nicht ganz genrefest ist und in der für meinen Geschmack entschieden zu wenig gekämpft wird. Doch am Ende geht mir der zwischenzeitlich leichthändige Erstling des Südkoreaners Jung Hyuk-ki noch richtig ans Herz.

ber20 – der dritte tag

In einer Pressevorführung sehe ich den neuen Film von Johannes Naber, dessen Kammerspiel Zeit der Kannibalen (2014) ich sehr geschätzt habe. Heute geht es um die (wahre) Affäre über eine irakische Quelle, die vom BND als Curveball geführt wurde und (Falsch-)Informationen über Biowaffen lieferte, die wiederum nach 9/11 die Amerikaner zur Legitimierung für den Irakkrieg benutzten. Am Ende bleibe ich benommen im Kinosessel sitzen: Wessen hirnrissige Idee war es, diesen großartigen Filmstoff zu deutschem Klamauk mit Schenkelklopperwitzen zu verarbeiten? Wie kann man bloß eine solche Story verschenken? Das wäre ja schon ärgerlich, wenn es um die Umsetzung einer fiktiven Vorlage gegangen wäre. Doch hier waren Geheimdienste in Deutschland mit Wissen der großen Politik an einer Riesensauerei geteiligt und Steigbügelhalter für Kriegstreiberei! Wütend verlasse ich den Saal.

Mein zweiter Film des Tages ist Volevo nascondermi (Hidden away), die filmische Künstlerbiographie über Antonio Ligabue (1899–1965) (Elio Germano), einem Vertreter der Art brut. Vor dem Hintergrund wohlkomponierter ausladender Landschaftsaufnahmen (Bildgestaltung von Matteo Cotto) und in einem wunderbar stimmigen historischen Kostüm- und Szenenbild erzählt der Italiener Giorgio Diritti in Buch und Regie vom Überleben eines psychisch versehrten Menschen in einer für ihn extrem feindlichen Umwelt.

seishin o – zero

© Laboratory X, Inc.

Die Kamera blickt in einen kleinen Raum. Am Schreibtisch in der Ecke sitzt der Psychiater, davor der Patient, ein vielleicht dreißigjähriger Mann, dessen Mutter  an der Tür stehenbleibt. Der Patient erzählt, der Psychiater nickt, schließt immer wieder länger die Augen. Es geht um Wünsche. Der Arzt schlägt vor, sich an einem Tag der Woche „auf Null zu setzen“, sich dem Erleben und Befriedigen von Begehren und Wünschen zu entziehen und lediglich zu spüren, dass man lebt. Sich auf Null setzen und versuchen, das eigene Leben zu empfinden, froh zu sein, dass man am Leben ist. „seishin o – zero“ weiterlesen

ber20 – der zweite tag

Als ich höre, dass Andere sich den Stress mit dem frühen Aufstehen nicht geben und man doch auch immer irgendwo reinkommt, schlafe ich ein bisschen länger, lasse den Schlauch reparieren und düse glücklich auf zwei Rädern durch Berlin – und bin wieder ein Mensch. Karten für heute habe ich ja.

Ich beginne mit dem wunderbaren japanischen Seishin O – Zero über einen Psychiater, der mit zweiundachtzig beschließt, seine Praxis zu schließen, sowie über sein Zusammenleben mit seiner an Demenz erkrankten Frau. Kazuhiro Soda zeichnet dieses dokumentarische Doppel-Porträt derart behutsam und zart, dass es mir, mit dem Schlaf ringend, dann am Ende Tränen aus den Augen treibt. Großartig, Regisseur Kazuhiro Soda und Produzentin Kiyoko Kashiwagi sind anwesend und dabei so charmant und witzig, dass ich von Film und Machern angerührt und hingerissen in die Welt hinaustaumele.

Am Nachmittag sehe ich meinen ersten Spielfilm. Mare kümmert sich um Mann und die drei Kinder, sie lebt in wunderbarer Landschaft aber direkt am Flughafen Dubrovnik, es ist wenig Geld da und die üblichen Probleme mit den heranwachsenden Kindern. Dann lernt sie einen Mann kennen, beginnt eine Affäre und die aufgestaute Sehnsucht nach einem anderen Leben droht sich Bahn zu brechen. Keine neue Geschichte, aber von Andrea Štaka in direkten Bildern und mit unverstelltem Blick für die Realitäten des Lebens erzählt, mit einer tollen Marija Škaričić in der Hauptrolle.

Ich schließe meinen zweiten Berlinale-Tag mit dem brasilianischen Wettbewerbsbeitrag Todos os mortos – All the dead ones, einem hochsymbolischen historischen Kammerspiel, in dem sich die beiden Regisseure Caetano Gotardo und Marco Dutra an den Themen Kolonialismus und Sklaverei abarbeiten. Das ist ein seltsamer Film: Im Grunde alles richtig gemacht, strenge Form, wichtige angesagte Themen, Frauenperspektive, tolle Bildgestaltung (Hélène Louvard), aber trotzdem springt der Funke nicht über. Vielleicht bleibt bei so viel Anstrengung kein Raum mehr für eine eigenständige filmische Poetik.

si c’était de l’amour

Film kann so viel mehr sein als einfach ’nur‘ Spiel- oder Dokumentarfilm. Das ist das erste, was mir nach wenigen Minuten von Si c’était de l’amour in den Sinn kommt. Das, was da auf der Leinwand zu sehen ist, ist keine reine Dokumentation der Rave-Tanzperformance „Crowd“ von Gisèle Viennes; vielmehr setzt sich Patric Chiha mit filmischen Mitteln mit Tanz, den Tänzerinnen und Tänzern, mit den darstellten und dahinterliegenden Stories des Stücks, mit der Choreographie und der eigentlichen Show auseinander.

Die Handlung der Performance: ein Rave in den 1990ern, es wird getanzt, Techno, in slow motion. Allein, paarweise, in Gruppen, einander zu- und abgewandt. Ein äußerst komplexes soziales Gefüge und Verhalten. Den Tanz sehen wir in der Szenerie der abschließenden „Show“, die Darstellerinnen und Darsteller in Kostümen, es gibt ein Szenenbild mit Matsche auf dem Boden, die dröhnende Musik. „si c’était de l’amour“ weiterlesen

ber20 – der erste tag

Nach einer ersten Akklimatisierung und Orientierung wird mir klar, dass wohl nur schwer zu planen ist, was ich in den nächsten Tagen sehen werde. Am heutigen Sonntag versuche ich, ohne Karte in zwei Filme zu kommen (was wohl zuweilen mit ein bisschen Glück als „Fachbesucher“ klappt). Nach einem tollen – und teuren – Kaffee stehe ich dann eine halbe Stunde in der „Badge“-Schlange, und schaffe es dann in Si c’était de l’amour, eine Doku über eine Tanzperformance.

Beim zweiten Film, den ich mir für den Nachmittag vornehme, unterläuft mir die nächste organisatorische Panne. Der anvisierte El Prófugo von der Argentinierin Natalia Meta läuft im Friedrichstadtpalast. Und dort gibt es das Prinzip des Nachrückens aber gar nicht. Ich bin eine dreiviertel Stunde vor Vorstellungsbeginn da. Die Leute stehen im Regen Schlange bis ums Eck. Ich verzichte darauf, doch noch irgendwie zu versuchen reinzukommen, drehe mich auf dem Absatz um und begebe mich auf die Suche nach einem warmen Café. Dieser „höchst originelle Psycho-Sex-Thriller“ (Programmheft), auf den ich ganz gespannt war, ist mir damit auf der Berlinale schon mal durch die Lappen gegangen. Das wars für heute mit Kino.

ber20 – die 70. berlinale 2020

Böen, Regen und Schlangenstehen – „Herzlich willkommen!“ auf Berlinerisch. Bin zum ersten Mal auf der Berlinale und erfahre, dass das bedeutet, sehr früh aufstehen zu müssen, um möglichst gegen sieben im Festivalzentrum sich zu den anderen Akkreditierten auf den Boden zu setzen, verschlafen das Programm für den nächsten Tage zusammenzustellen, um dann um halb neun Karten für den nächsten Tag zu ergattern. Das Ticketpersonal versichert mir – und nach dem Anblick der gähnenden ‚professionals‘-Menge glaube ich das -, dass nach neun Uhr die für das Fachpublikum vorgesehene Karten weg sind. Puh! Spätvorstellungen streiche ich direkt mal. Alle sind müde. Charmant und entspannt geht anders.

Berlinale dieses Jahr mit rundem Geburtstag und neuer Leitung (Mariette Rissenbeek und Carlo Chatrian). Meine Ankunft ist rumpelig. Mein Rad hat ’nen Platten und mein rechter Schuh ’nen Loch, ergo der Fuß Nässe, kein Witz.