Als ich höre, dass Andere sich den Stress mit dem frühen Aufstehen nicht geben und man doch auch immer irgendwo reinkommt, schlafe ich ein bisschen länger, lasse den Schlauch reparieren und düse glücklich auf zwei Rädern durch Berlin – und bin wieder ein Mensch. Karten für heute habe ich ja.
Ich beginne mit dem wunderbaren japanischen Seishin O – Zero über einen Psychiater, der mit zweiundachtzig beschließt, seine Praxis zu schließen, sowie über sein Zusammenleben mit seiner an Demenz erkrankten Frau. Kazuhiro Soda zeichnet dieses dokumentarische Doppel-Porträt derart behutsam und zart, dass es mir, mit dem Schlaf ringend, dann am Ende Tränen aus den Augen treibt. Großartig, Regisseur Kazuhiro Soda und Produzentin Kiyoko Kashiwagi sind anwesend und dabei so charmant und witzig, dass ich von Film und Machern angerührt und hingerissen in die Welt hinaustaumele.
Am Nachmittag sehe ich meinen ersten Spielfilm. Mare kümmert sich um Mann und die drei Kinder, sie lebt in wunderbarer Landschaft aber direkt am Flughafen Dubrovnik, es ist wenig Geld da und die üblichen Probleme mit den heranwachsenden Kindern. Dann lernt sie einen Mann kennen, beginnt eine Affäre und die aufgestaute Sehnsucht nach einem anderen Leben droht sich Bahn zu brechen. Keine neue Geschichte, aber von Andrea Štaka in direkten Bildern und mit unverstelltem Blick für die Realitäten des Lebens erzählt, mit einer tollen Marija Škaričić in der Hauptrolle.
Ich schließe meinen zweiten Berlinale-Tag mit dem brasilianischen Wettbewerbsbeitrag Todos os mortos – All the dead ones, einem hochsymbolischen historischen Kammerspiel, in dem sich die beiden Regisseure Caetano Gotardo und Marco Dutra an den Themen Kolonialismus und Sklaverei abarbeiten. Das ist ein seltsamer Film: Im Grunde alles richtig gemacht, strenge Form, wichtige angesagte Themen, Frauenperspektive, tolle Bildgestaltung (Hélène Louvard), aber trotzdem springt der Funke nicht über. Vielleicht bleibt bei so viel Anstrengung kein Raum mehr für eine eigenständige filmische Poetik.