Estiu 1993 (Sommer 1993) beginnt langsam. Die ersten Einstellungen fangen immer wieder das Profil eines lockengerahmten gebräunten Kindergesichts ein, dessen regungsloser Blick sich auf ein Geschehen außerhalb des Bildausschnitts heftet. Gedämpft erklingen Gespräche und Musik. Als die Handkamera dem Blick des Kindes folgt, sehen wir mit ihm durch den Türrahmen in den anderen Raum der Wohnung, in dem Erwachsene räumen, ein Mann Gitarre spielt und jemand dazu eine traurige Melodie singt. Streng werden wir in den ersten Szenen auf die Perspektive der Protagonistin eingeschworen, die sechsjährige Frida (Laia Artigas) wahrt sorgsam ihren Abstand zur Welt. Und zu Ereignissen, die sie nicht wirklich versteht: ein Umzug von der Stadt aufs Land, zu einer Frau und einem Mann, die vertraut, aber nicht ihre Eltern sind. Erste Schritte in der fremden Umgebung eines Bauernhauses in den katalanischen Bergen, unsichere Erkundungen. Und dann ist da Anna (Paula Robles), die dreijährige Tochter ihrer neuen Eltern.
Es sind nicht die liebevollen und geduldigen neuen Eltern, mit deren Hilfe sich Frida langsam aus ihrer Verkapselung zu lösen beginnt, sondern es ist das jüngere Kind. Die beiden Mädchen erleben zusammen den Sommer auf dem Land, in einer weitgehend autarken Kinderwelt. In Fridas erste Kontakte zur vertrauensvollen Anna mischen sich rasch kleine grausame und mitunter gefährliche Spielchen um Macht und Dominanz. Das jüngere Mädchen quittiert Fridas Bösartigkeiten allerdings unbeirrt mit bedingungsloser Liebe. Fridas Manipulieren und Herumkommandieren der Jüngeren ist schonungslos beobachtet und dadurch schwer auszuhalten.
Ohne es recht zu merken sind wir nach dem etwas statisch geratenen zögerlichen Beginn des Films und der Irritation über Fridas sterile Erstarrung von einer spannenden Erzählung gefangen genommen worden, die im komplexen Beziehungsgeflecht der sich neu zu konstituierenden Familie unter den schwierigen Bedingungen eines Trauerfalls mäandert. Absolut bemerkenswert ist die subtile psychologische Zeichnung des ungleichen Mädchengespanns als auch von Fridas Onkel (David Verdaguer) und seiner Frau (Bruna Cusí), die trotz ihres bewunderungwürdig guten Willens im Umgang mit dem renitenten und verstörten Mädchen immer wieder hart an ihre Grenzen stoßen.
Bei aller Schwere des Themas – einem kleinen Mädchen sterben die Eltern – verliert Carla Simón in Estiu 1993 niemals ihre leichte Hand, mit der sie ihren Sommerfilm über ein autobiographisches Erlebnis inszeniert. Um die schwierige Erzählung zu einem Kinofilm zu machen, der die große Leinwand satt ausfüllt, waren neben der Bildgestaltung (Santiago Racaj) auch die wunderbare Location des alleinstehenden alten steinernen Bauernhauses im Wald der katalanischen Berge (Produktionsdesign: Mónica Bernuy), ein dezentes und liebevoll ausgestaltetes Kostümbild (Anna Aguilà) und die unkitschige Darstellung des katalanischen Landlebens einschließlich trashiger Tanzkombo und den folkloristisch-biederen Umzügen katalanischer Riesenpuppen verantwortlich. Vor allem aber lebt der Film von dem unfassbar guten Schauspiel der beiden jungen Darstellerinnen Laia Artigas und Paula Robles, die einen unmittelbar ins Geschehen ziehen und einen regelrechten Authentizitätssog entwickeln. Man kann nur staunen über das handwerkliche Filmgeschick und -gespür der Regisseurin Carla Simón und ihres Teams, die bereits 2017 in Cannes und Berlin für diesen Spielfilmerstling ausgezeichnet wurden.
Der Film entlässt uns tief bewegt, bildgesättigt und mit sommerlichem Schwung in die Welt außerhalb des Kinosaals – eine unbedingte Empfehlung, wenn der Film im Sommer unter dem Verleihtitel Fridas Sommer in die deutschen Kinos kommt!