iffr2023 – Fazit

Etwas benommen von den letzten Tagen blättere ich zu Hause im monumentalen Katalog des 52. Internationalen Filmfestivals Rotterdam herum. Von den elf Filmen, die ich gesehen habe, fand ich nur einen nicht gut. Meine Länderstatistik: Chile, Frankreich (3x), Indonesien, Island, Marokko, Rumänien, Schweden, Slowakei, Südkorea, das sind sieben europäische und vier nicht-europäische Filme. Meine Genderstatistik Regie: sieben Männer, fünf Frauen (Avant l’effrondement hatte ein gemischtes Regieteam), außerdem standen in mindestens drei Filmen dezidiert eine oder mehrere Frauenfiguren im Mittelpunkt der Geschichte. Sollte das Festival tatsächlich an die 600 Filme im Programm gehabt haben, wie ich irgendwo gelesen habe, habe ich 2,4 Prozent des Programms gesehen. Unter den unendlich vielen anderen Filmen merke ich mir aus verschiedensten Gründen die folgenden Filme:

  • Blue Jean von Georgia Oakley über queeres Leben unter Thatcher.
  • Endless Borders von Abbas Amini gewinnt die Big Screen Competition.
  • Cairo Conspiracy von Tarik Saleh, der auch The Nile Hilton Incident gemacht hat
  • Eo von Jerzy Skolimowski, ein Eselfilm!
  • Esterno notte von Marco Bellocchio, sechsteilige Politthriller-TV-Serie über die Umstände der Aldo Moro-Entführung und -Tötung
  • Fogo-Fátuo von João Pedro Rodrigues, dem Macher von O ornitólogo
  • Hand von Matsui Daigo, japanisches Erotik-Drama
  • La hembrita von Laura Amalia Guzmán, die ich von Dolares de arena kenne.
  • A los libros y a las mujeres canto von María Elorza über Frauen und Bücher
  • Letzter Abend von Lukas Nathrath, läuft zeitgleich auf dem Filmfestival Max Ophüls Preis, wo er den Hauptpreis gewinnt.
  • Luise von Matthias Luthardt, ein historisches Drama im Elsaß nach dem Ersten Weltkrieg mit Luise Aschenbrenner.
  • Night Walk von Sohn Koo-yong: Nächtliche Landschaften und Gedichte
  • Nostalgia von Mario Martone mit Pierfrancesco Favino, den ich aus Cosa voglio di più von Soldini kenne, über Felice, der nach 40 Jahren im Ausland nach Neapel zurückkehrt
  • Orphea in Love von Axel Ranisch war im Publikumsranking einmal ganz oben!
  • Pacifiction – Tourment sur les îles von Albert Serra mit Benoît Magimel, gerade überall in den Feuilletons, 165 Minuten
  • Come pecore in mezzo ai lupi von Lyda Patitucci, ein italienischer hard-boiled Polizeithriller
  • Playland von Georden West über das queere Playland Café, das in Boston  von 1937 bis 1998 existierte.
  • Showing Up von Kelly Reichardt
  • Le spectre de Boko Haram von Cyreille Raingou gewinnt den Tiger.
  • When the Waves Are Gone des Philippiners Lav Diaz, der dieses Jahr in der Jury zum Hauptpreis sitzt (187 Minuten)
  • White River von Ma Xue, erotisches Drama aus Südkorea
  • Wir sind dann wohl die Angehörigen von Hans-Christian Schmid über die Reemtsma-Entführung

iffr2023 – der letzte Tag

Während meines frühmorgendlichen südkoreanischen 소년들 – The Boys von Chung Ji-young bemerke ich, wie die Leute im Kino beginnen, mir gehörig auf die Nerven zu gehen. Warum schauen sie mitten in der Vorstellung auf ihre Handys? Und wieso müssen sie immer Sachen aus Tüten essen, die so wahnsinnig laut rascheln? Neben mir sitzt ein Pärchen, die aus irgendetwas laut Knisterndem unendlich lange und umständlich Reiswaffeln (!!) herausfriemeln, die dann auch noch beim Essen solch einen Lärm machen, dass ich den Eindruck habe, dass dieses unangenehme Knurpsen regelrecht durch den Saal hallt.

Ich werde dünnhäutig und habe wohl langsam genug vom Filmekucken und im Kino Hocken. Doch ich widerstehe dem Impuls, direkt in den nächsten Zug zu springen, und überzeuge mich, doch noch in einen Film zu gehen, wo ich doch schon hier bin. Es wird: Sri Asih, ein indonesischer Superheldinnenfilm! Yeah! Und zwar ganz ohne tiefe Ausschnitte und hochhackige Schuhe, dafür mit mehr Martial Arts-Nachkampf-Szenen – eine Wohltat, und ein würdiger Abschluss meines Rotterdamer Festivals.

Und als das kleine Mädchen mit den großen Augen der Superheldin dafür dankt, dass sie ihr und den anderen Tausenden Menschen das Leben gerettet hat, bemerke ich, dass mir die Augen volllaufen. Da weiß ich, dass für mich wirklich das Ende des Rotterdamer Filmfestivals gekommen ist. Glücklich-traurig-müde hole ich in meinem schäbigen Hotel meinen Koffer, schleppe uns zum Bahnhof und fahre nach Hause. Tschüss, Rotterdam, bis zum nächsten Mal!

소년들 – The Boys

Morgens sehe ich 소년들 – The Boys, einen prominent besetzten Krimi des südkoreanischen Regisseurs Chung Ji-young, der für seine Thriller und kritischen Filme gegen Folter und Korruption auch international bekannt ist. Der Saal ist voll, damit habe ich um halb zehn Uhr morgens nicht gerechnet. Auch nicht erwartet habe ich, dass in diesem Film ein Krimi mit sozialem Realismus und einer human-touch-Story krude miteinander vermischt – und dass mir der Film dann trotzdem gefallen würde. „소년들 – The Boys“ weiterlesen

iffr2023 – der vierte Tag

Meinen vorletzten Tag verbringe ich wieder in diesem netten Café (Lilith) mit Schreiben. Neugierig gespannt bin ich auf Avant l’effrondement, bei dem Alice Zeniter Ko-Regie geführt hat, eine Autorin, die ich in den letzten Jahren ausgesprochen gerne gelesen habe. Habe ein bisschen Schiss davor, enttäuscht zu werden. Auf meinen Abendfilm hingegen, El puño del Cóndor, freue ich mich richtig. Ich meine, hallo? Allein dieser Titel, die Faust des Condors … Und dann sind es chilenische Martial Arts! Das muss einfach super werden!

Moc – Power

Sehe abends die Weltpremiere von Moc – Power, den zweiten Film von Mátyás Prikler, einen Politthriller über den slowakischen Geheimdienst, der vertuschen soll, dass ein hochrangiger Minister auf einer Jagd aus Versehen einen unschuldigen Jungen erschossen hat. Im Mittelpunkt steht der Geheimdienstagent Steiner (Szabolcz Hajdu), der den Vorfall untersucht und damit beauftragt wird, einen passenden Sündenbock für den Mord zu finden und gefügig zu machen. Die Figur von Steiner wird mit einer unheilbaren Krankheit im finalen Stadium ausgestattet, und so mit der nötigen Abgefucktheit, um den Job ohne größere Skrupel zu erledigen und daraus qua kleiner Erpressung eigenen Profit zu schlagen, die Frau samt Sohn und ungeborenem Kind zu Gute kommen sollen. Er ist es auch, der den Minister Berger davon überzeugt, die Verantwortung für diesen Unfall abzuwälzen, um weiter für das höhere Gut kämpfen zu können, nämlich das, was er in der Politik erreichen kann. „Moc – Power“ weiterlesen

Tigru – Day of the Tiger

Im Mittelpunkt des leicht schwermütigen rumänischen Tigru – Day of the Tiger steht die Tierärztin Vera (wunderbar: Cătălina Moga, fand ich schon in Sieranevada toll), die vor Kurzem ihr Neugeborenes verloren hat und von ihrem Mann betrogen wird, eine toughe Frau, die sich jedes Selbstmitleid versagt und statt dessen nachts gerne im Zoo herumtreibt, wo sie sich wohlfühlt bei den Tieren und in den Gehegen. Es ist der Zoo, der ein Tigerweibchen aufgenommen hat, um das sie sich kümmert und das am nächsten Tag ausgebüchst ist. Die Großwildjagd im angrenzenden Wald beginnt! „Tigru – Day of the Tiger“ weiterlesen

iffr2023 – der dritte Tag

Mein dritter Tag in Rotterdam. Nach der gestrigen Pleite schaue ich am Nachmittag drei Filme unmittelbar nacheinander und muss mich ein bisschen beeilen, um zwischen den beiden Kinos hin und her zulaufen. Ich beginne mit Tigru – Day of the Tiger und: Meine Wertschätzung für den rumänischen Film wird nicht enttäuscht.

Etwas ratlos bin ich hingegen mit dem in der Kritik bisher hochgelobten Saint Omer von Alice Diop, einem wunderschön fotografierten und karg inszenierten Film, der von einem Gerichtsprozess um eine senegalesische Frau erzählt, die ihr Baby umgebracht hat, ihre Tat nicht, wohl aber ihre Schuld leugnet. Es geht um intergenerationale Traumavererbung, um kolonial gesteuerte Blicke und Verurteilungen, um Mutterschaft – spannende Themen, ich bleibe aber nachhaltig irritiert von der unangemessen emotionalisierenden Machart.

Schließlich geht es auf die Weltpremiere des slowakischen Politthrillers Moc – Power, die Crew ist abgesehen von Regisseur Mátyás Prikler anwesend. Es ist erst neun, als ich an diesem Tag mit Filmschauen fertig bin. Ich setze mich ins sehr laute, dafür aber angenehm leicht überheizte Theatercafé und schreibe, bis mir die Augen zufallen.

iffr2023 – der zweite Tag

Ich wache mit starken Kopfschmerzen auf und verbringe den Vormittag im Bett mit einem endlos erscheinenden Studium des Katalogs. Die Auswahl der Filme für heute und die nächsten drei Tage überfordert mich noch stärker als gestern und das Ergebnis kann bestenfalls als aleatorisch bezeichnet werden. Die träge und unübersichtliche Festival-App verwandelt den Ticketkauf bei dem langsamen Internet im Hotel zu einem öden Krimi. Mittags schleppe ich mich in eine Apotheke und erstehe Ibuprophen, das in Rotterdam in lustigen pinken Pillen ausgegeben wird. Ich finde nach einem längeren wohltuenden Spaziergang ein schönes Café, in dem ich vernünftiges Netz habe und den Nachmittag endlich mit erstem Schreiben verbringe. Es dauert, bis ich ein bisschen reinkomme, ist alles lange her. Neben mich setzen sich dann Leute, die eine skandinatische Sprache sprechen, ich frage nach in der Hoffnung auf Aufklärung über den dänischen Titel von Godland, und siehe da: Es ist die Produzentin des Films, über den ich gerade schreibe! Wesentlich besser gelaunt mache ich mich am frühen Abend auf dem Weg ins Cinerama, wo es zwar eine ganz leckere Suppe, aber kein Internet gibt.

Ich sehe eine Klassikeradaptation der jungen schwedischen Filmemacherin Nadja Ericsson, die sich für ihren ersten Film Henrik Ibsens Vildanden – Die Wildente  vorgenommen hat. Gearbeitet wurde mit Handkamera, die Dialoge sind überwiegend in Improvisation mit den Darstellerinnen und dem Darsteller entstanden, die ihre Freunde aus der Kunstschule sind, es wurde kein künstliches Licht verwendet, gefilmt wurde in vier Tagen. Solche Einschränkungen kann eine eigene filmische Poesie erzeugen, die sich mir in diesem Film aber nicht erschloss. Die Inszenierung wirkt schnodderig, die improvisierten Dialoge sind redundant und wirken banal, die extensiven Bildunschärfen der auch bei ruhigen Einstellungen unentwegt wackelnden Kamera erscheinen unnötig anstregend, und ist die naheliegende Symbolik der Blindheit nicht etwas platt? Ich frage mich etwas ratlos: Ericsson verfilmt einen Klassiker der schwedischen Dramatik, aber warum bloß?

iffr2023 – der erste Abend

Als ich aus dem Kino komme, ist es Viertel nach elf, ich bin todmüde und habe einen wahnsinnigen Hunger. In der Festivallocation bekomme ich nichts mehr außer überteuerten Chips, einem Bier und einem irritierenden Bump in Mathieu Amalric. Verstört laufe ich zu meinem schäbigen Hotel zurück und falle dort ins Bett.