Ein Mann steht an einer Mauer, vor ihm erstreckt sich an einem dunstigen Morgen das Meer. Eine großartige Aussicht auf die mediterrane Stadt und die Bucht. Riesige Containerschiffe ankern vor der Küste und warten auf den Einlass in den Hafen. Der Mann ist vertieft in den Anblick, dann dreht er sich um und gibt zwei Handlangern Anweisung, den am Boden liegenden Mann weiter zu foltern. Jäh verdrängt rohe Gewalt die idyllische Stimmung – alltäglich und unaufgeregt inszeniert. Während die beiden den Kopf des Opfers immer wieder in den mit Wasser gefüllten Trog pressen, steht der Mann daneben, führt über sein Handy mit Kunden und seiner Frau Gespräche, reisst Witze.
In El-Stouch – Les terrasses versucht der Regisseur Merzak Allouache eine Momentaufnahme von Algerien, einer von den Gewaltexzessen des Bürgerkriegs tief geprägten Gesellschaft. Anhand von fünf parallelen, miteinander unverbundenen Erzählungen, die alle an dem einem gleichen Tag spielen, zeichnet er ein Porträt seiner Heimatstadt Algier und ihrer Bewohner. Die Schilderung dieses einen Tages folgt chronologisch dem Rhythmus der Gebetsaufrufe des Muezzins, die vom Morgengrauen bis in die Nacht fünf Mal über die Stadt schallen. Fünf Szenen eines Tages im Leben der Bewohner dieser im Hang liegenden levantinischen Großstadt in verschiedenen Vierteln der Stadt: das Labyrinth der verwinkelten Gassen und Treffenaufgänge der Altstadt Kasbah, abgewrackte Häuserschluchten im volkstümlichen Bab el Oued, das Viertel der Notre-Dame de l’Afrique, hochstöckige Gründerzeithäuser des bürgerlichen Télémly, nackte Gebäudewände und viel Schutt im Vorort Belcourt.
Schauplatz der Geschichten sind die Terrassen der Stadt, quasi-öffentliche Plätze der Begegnung der Hausbewohner, die teilweise illegal in Waschküchen oder selbstgezimmerten Hütten auf den Dächer der Stadt leben. Auf einer Terrasse wird ein alter Mann in einem hundehüttengroßen Verschlag von einem frommen Islamisten an der Kette gefangen gehalten. Nur die kleine Nichte spricht mit ihm. In einer anderen Geschichte wird eine Frau von ihrem Mann vor den Augen einer Band, die auf einer anderen Terrasse probt, brutal zusammengeschlagen wird. Sie sehen entsetzt zu, doch niemand schreitet ein.
Dann begegnen wir einer offensichtlich verstörten Frau, apathisch sitzt sie in einer Art Dämmerzustand einfach nur da. Nebenbei erfährt man, dass sie von Terroristen entführt, gefangen gehalten und jahrelang vergewaltigt worden war. Schwanger wurde sie aus der Gefangenschaft entlassen, dann von ihrer Familie aus Schande über das uneheliche Kind verstoßen. Aufnahme hatte sie zusammen mit ihrem Sohn nur bei der ärmlichen Tante auf der Terrasse in einer selbstgebauten Hütte gefunden.
Die Beiläufigkeit und Allgegenwärtigkeit von Gewalt, die permanente Erniedrigung und die Unentrinnbarkeit aus den Verhältnissen ziehen sich als Leitmotive durch die Geschichten, mit denen Allouache die algerische Gesellschaft beschreibt. Zum Filmstart von Es-Stouh – Les Terrasses im offiziellen Wettbewerb auf den Filmfestspielen in Venedig 2013 sagte er, er verstehe sich als „Zeuge“ der Verhältnisse in Algerien. Einer Gesellschaft, die in der sogenannten décennie noire (dem „dunklen Jahrzehnt“) der 1990er Jahre in einem von den Islamisten und dem algerischen Militär gleichermaßen brutal geführten Bürgerkrieg versank, der mindestens 100.000 Menschen das Leben kostete. Als Chronist seines Landes dreht Allouache bereits seit den 1970er Jahren Filme und ist in vielen Genres zu Hause (seine Komödie Chouchou war 2003 in Frankreich ein echter Kassenschlager). Doch immer wieder geht es um das „tief verletzte und schwer erkrankte Algerien“ (Allouache). In seinem letzten Film El Taaib – Le repenti (2012) erzählte Allouache die Geschichte des jungen Dschihadistenkämpfers Raschid, der während der großen Amnestie seine Waffen niederlegt und versucht, in sein altes Dorf zurückzukehren.
Trotz der Allgegenwärtigkeit von Gewalt und Not ist Es-Stouh – Les Terrasses ein langsamer und sehr schöner Film geworden. Allouache und sein Kameramann Frédéric Derrien lassen uns genug Zeit, um uns an der herrlichen Aussicht auf das Meer zu laben, an Nahaufnahmen von Gesichtern oder von alltäglichen Dingen, die zu Stillleben gerinnen. Der Albdruck der Gewalt gleitet zuweilen in morbide Skurilität ab, etwa als den Folterern eine Filmcrew von drei Leuten in die Quere kommt und diese in der nächsten Szene dahingemeuchelt nebeneinander auf dem Boden liegen, was eigentlich schon wieder richtig lustig ist. Allouache gönnt dem Zuschauer auch ein bisschen Menschlichkeit und Wärme, als Sängerin und Nachbarin des nächtens per Zeichensprache verbotene intime Liebesschwüre austauschen oder ein pensionierter Polizist der alten Tante überraschend wohlgesonnen praktische Tipps zur Beseitigung einer Leiche gibt. In der wunderbaren Szene mit den jungen Musikern, die auf den Dächern von Algier über Auftrittsmöglichkeiten diskutieren, voller Hoffnung auf eine unabhängige künstlerische Zukunft, wagt Allouache sogar einen optimistischen Blick nach vorn. Und dann packen die Musiker ihre Instrumente aus und spielen einen Song über schwierige Beziehungen und die Liebe. Beschwingt und lachend singen sie gemeinsam den Refrain, und der von den Gerüchen der levantinischen Küste schwangere Wind streicht durch ihre Haare.